Wataru Endo ist weg, Angelo Stiller ist da: Zumindest nominell ist der gebürtige Münchner der Nachfolger unseres ehemaligen Kapitäns auf der Sechs. Aber wird er ihn, im Zusammenspiel mit seinen neuen Teamkollegen auch sportlich ersetzen können? Wir haben uns in München und Hoffenheim umgehört.
So charmant die Lösung mit einem defensiveren Enzo Millot hinter einem offensiveren Jeong Woo-yeong gegen Bochum war: Dass auf der Sechserposition beim VfB noch etwas passieren musste, war schon vor dem Abgang von Wataru Endo klar. Am vergangenen Freitag hat der VfB nun reagiert und den Transfer des 22jährigen Angelo Stiller bekannt gegeben, während alle außer Stiller gerade in Leipzig ankamen. Damit folgt nach dem eben genannten Jeong ein weiterer ehemaliger Hoeneß-Spieler dem Trainer nach Stuttgart — in Stillers Fall zum zweiten Mal. Dementsprechend überrascht auch nicht, wer uns erneut sehr ausführlich und informativ Auskunft über unseren Neuzugang geben konnte: Über Stillers Zeit in seiner Geburtsstadt München sprachen wir mit FCB-Nachwuchs-Experte Martin, die folgenden zwei Spielzeiten in Hoffenheim mit Nikolas Beck, stellvertretender Ressortleiter Sport bei der Rhein-Neckar-Zeitung.
Münchner Eigenwächs und Drittliga-Meister
Wie schon erwähnt ist Stiller ein Münchner Eigengewächs und schloß sich dem Rekordmeister bereits mit neun Jahren an, wie sein außergewöhnlich ausführlicher und blumiger Wikipedia-Artikel zu berichten weiß. Stiller durchlief an der Säbener Straße alle Jugendmannschaften und hatte bei diesen, wie Martin unterstreicht, einen hohen Stellenwert: “Seit ich denken kann, war er Kapitän seines Jahrgangs. Er war stets der verlängerte Arm des Trainers auf dem Rasen, wurde von Teamkollegen wie von den Verantwortlichen geschätzt.” In die Nationalmannschaft wurde er allerdings erst für die U17 berufen, laut Martin beim DFB nicht sonderlich überraschend. Sein Stellenwert im Nachwuchs unterstreicht auch, dass der die Münchner B‑Jugend 2018 als Kapitän zum Vizemeister-Titel führte und in der Folgesaison auch in der A‑Jugend Stammspieler war — auch wenn die Mannschaft von Sebastian Hoeneß nur Vierter wurde und den Meistertitel in der Südstaffel Nico Willigs Jungs überlassen musste. In beiden Jahren spielte er auch insgesamt neun Partien in der UEFA Youth League, im A‑Juniorenpokal scheiterte er mit den Bayern im Achtelfinale am späteren Pokalsieger aus Bad Cannstatt. Stiller sei ein Spieler gewesen, der schon in der Jugend einen gewissen Zauber versprühte, so Martin, einer wegen dem man gerne Jugendspiele schaue.
Zur Saison 2019/2020 rückte sein alter und neuer Trainer Sebastian Hoeneß zur gerade aufgestiegenen Drittliga-Mannschaft der Münchner auf. Die Geschichte dieser Saison kennt Ihr zur Genüge von den Vorstellungen von Hoeneß und Jeong: Nach einer durchwachsenen Hinrunde stürmten die kleinen Bayern zur Drittliga-Meisterschaft. Wie wir bereits wissen, hatte auch der von Bayern zurück geliehene Jeong seinen Anteil daran, Martin zufolge war Stiller aber der Schlüssel zur Meisterschaft. Eigentlich hätte er schon im Sommer 2019 in die zweite Mannschaft “befördert” werden sollen, Hoeneß entschied sich jedoch zunächst dagegen. Nach einem guten Auftritt im Testspiel gegen Türkgücü in der Wintervorbereitung habe sich Stiller aber unverzichtbar gemacht und sei zur Schaltzentrale aufgestiegen. In Scoutingkreisen, so Martin, sei man sich einig gewesen, dass Stiller in der Rückrunde der beste Spieler der dritten Liga war.
Zurück zu Hoeneß
Den Status behielt Stiller auch in der Folgesaison, der für Bayern II allerdings im Abstieg endete — ihr kennt die Story. Martin zufolge hatte der Abstieg vielfältige Gründe. Zu viele, als dass Stiller hier entscheidend hätte Einfluss nehmen können. Für die erste Mannschaft des Serienmeisters reichte indes nur für Kurzeinsätze in der ersten Pokalrunde und in der Champions League. Der damalige Trainer Hansi Flick habe die Meinung vertreten, Stiller sei für seine Spielidee zu langsam, so Martin, auch wenn es dazu intern Gegenstimmen gegeben habe. Als Julian Nagelsmann Flick im Sommer 2021 als Bayern-Trainer folgte, hatte sich Stiller längst für einen Vereinswechsel entschieden: Nach Hoffenheim, wo sein ehemaliger U19 und Drittliga-Trainer Hoeneß neuer Chefcoach war. In dieser Zeit debütierte er übrigens auch für die deutsche U21-Nationalmannschaft und stand sowohl in der Qualifikation, als auch in der unrühmlich verlaufenen Endrunde fast immer auf dem Platz, teilweise als Kapitän.
Dass Stiller wegen Hoeneß in Hoffenheim unterschrieben hatte, überraschte dort niemanden, erklärt uns Niko. Dass der damals 20jährige am ersten Spieltag der Saison 2021/2022 jedoch direkt in der Startelf stand, als die Hoffenheimer Augsburg mit 4:0 besiegten jedoch schon. Man habe eher erwartet, dass er als Talent erst ein bis zwei Jahre später so weit sein würde. Nachdem er am zweiten Spieltag immerhin noch ein Assist beisteuern konnte und am 3. Spieltag beim 2:3 in Dortmund noch 45 Minuten auf dem Platz stand, saß er danach plötzlich fünf Spiele lang auf der Tribüne. Das hatte Niko zufolge vor allem mit der Rückkehr von Florian Grillitsch auf den Platz zu tun und so kam Stiller für den Rest der Hinrunde, die Hoffenheim auf Platz 4 beendete, nur noch als Einwechselspieler zum Zug. Immerhin gelang ihm am 16. Spieltag beim 2:2 gegen Leverkusen sein erstes Bundesliga-Tor.
Nachvollziehbarer Wechsel
In der Rückrunde etablierte sich Stiller dann auch in der Bundesliga als Stammspieler, bedingt jedoch durch viele Verletzungen — unter anderem bei Grillitsch -, die auch dafür sorgten, dass die Mannschaft in der Tabelle abstürzte. Von 16 Spielen gewann die Mannschaft nur noch vier — selbstredend gegen den VfB — von denen Stiller zwei Partien krank verpasste. “Eigenwerbung konnte damals keiner betreiben, auch Stiller nicht.”, so Niko. In der vergangenen Saison, als Hoeneß durch André Breitenreiter ersetzt wurde, gingen Stillers Einsatzzeiten dann weiter runter, nur zwei Spiele bestritt er über 90 Minuten Niko zufolge hat das auch mit einem Bänderriss zu tun, wegen dem er die Vorbereitung verpasste. Beim anfänglichen Höhenflug sah Trainer Breitenreiter dann auch keinen Grund, ihm mehr Spielzeit zu geben. Stiller sammelte dann erst zu Beginn der Rückrunde unter Pellegrino Matarazzo wieder Minuten, “und war plötzlich wieder Stammspieler in einer Mannschaft, die einfach nicht mehr gewinnen konnte. Stiller trug daran gewiss keine Hauptschuld. Aber positiv in Szene setzen konnte er sich auch nur ganz selten”, erläutert Niko. Neben dem Bänderriss zu Saisonbeginn plagten ihn letztes Jahr übrigens auch noch eine Beckenprellung und Knieprobleme — sicherlich auch nicht förderlich, um in Form zu kommen.
Nun also der Wechsel zum VfB. Als Hoffenheim vorvergangenes Wochenende dem SC Freiburg mit 1:2 unterlag stand Stiller och 84 Minuten lang auf dem Platz, was wohl das Ergebnis einer guten Vorbereitung sei. Niko gibt jedoch zu bedenken, dass eine Rückkehr von Wout Weghorst und Dennis Geiger ihn seinen Platz im Kader wieder hätten kosten können. Zudem kehrte Florian Grillitsch im Sommer zurück in den Kraichgau — die Erwartung an Stiller, in dessen Abwesenheit aufzublühen, konnte dieser nicht erfüllen. Der Wechsel ist also aus Nikos Sicht durchaus nachvollziehbar. Und für uns?
Strukturstark
In München, erklärt Martin, habe Stiller meist in einem 4–2‑3–1 auf der defensiveren Sechserposition gespielt, die gleiche Position bekleidete er auch später in Hoffenheim, entweder als alleiniger Sechser oder als Teil einer Doppelsechs, erst unter Hoeneß im 4–4‑2, später unter Breitenreiter und Matarazzo im uns gut bekannten 3–5‑2. Abgesehen davon, dass er und Hoeneß sich sowieso gut kennen, sollte er also keine Probleme haben, sich an die derzeit beim VfB praktizierten Formationen zu gewöhnen. In München, so Martin, sei er immer erste Anspielstation für Torhüter und Innenverteidiger gewesen, kein Spielaufbau sei an ihm vorbeigelaufen. “Er gibt die Richtung und das Tempo vor”, so Martin. Seine größte Stärke beschreibt er folgendermaßen:
Du könntest ihn jetzt in 10 Minuten mit ihm zehn wildfremden Mitspielern auf den Platz stellen und er würde dem Spiel trotzdem merklich Struktur geben. Er hat ein überragendes Passspiel und Raumgefühl, aber auch defensiv eine gute Antizipation für Passwege.
Auch Niko hebt Stillers Technik und sein gutes Auge hervor, Schwächen sieht er bei ihm bei der Schnelligkeit, auch wenn er ihm bei der Laufstärke und beim Offensivdrang eine Entwicklung bescheinigt. Auch Martin war beim letzten Hoffenheimer Spiel in München aufgefallen, dass Stiller wesentlich offensiver auftrete.
Ist Angelo Stiller also, sportlich gesehen, der neue Wataru Endo? Mal ganz abgesehen davon, dass er acht Jahre jünger ist und in einer ganz anderen Phase seiner Karriere, gibt es gewisse Parallelen.
An dieser Stelle danke an Steffen für den Tipp, die vielen Daten auf FBref.com mit dieser schicken Browser-Erweiterung zu visualisieren. Nun ist es natürlich schwierig, die letzte Saison der beiden, in der der eine Stammspieler und der andere Einwechselspieler war, zu vergleichen. Was man aber sieht ist, dass sich Stiller in Sachen Zweikampfstärke nicht zu verstecken braucht, ihm aber die Offensivgefahr, die Endo häufig durch seine Vorstöße ausstrahlte, bisher abging. Stiller orientiert sich bislang, trotz offensiver Tendenzen und auch wegen der läuferischen Schwächen, eher noch an einer box, der eigenen.
Stratege fürs Puzzle
Immer noch ist das Transferfenster nicht zu, ob und wie sich der VfB noch einmal verstärkt, wissen wir also nicht. Dementsprechend ist auch noch unklar, in welcher Formation die Mannschaft in den kommenden Monaten auflaufen wird. Kehrt man, wenn Vagnomans Fuß verheilt ist, irgendwann zum klassischen 3–5‑2 mit Schienenspielern zurück? Oder bleibt Hoeneß beim aktuell praktizierten 4–2‑3–1? So oder so ist das defensive Mittelfeld nach wie vor ein Fixpunkt dieser Mannschaft. Wenn Stiller auch selber nicht direkt für Torgefahr sorgt, so kann er mit einem kreativen Spielaufbau diese durchaus begünstigen. Während Wataru Endo, jetzt mal sehr plakativ gesprochen, der unermüdliche Kämpfer war, der gegnerische Angriffe unterband und die eigene Mannschaft mit Läufen durchs Mittelfeld nach vorne peitschte, scheint Stiller eher der Stratege zu sein, der die Bälle verteilt und gleichzeitig hinten den Laden sauber hält — wenn alles gut geht. An sich kein schlechter Ansatz, es wird dann nur doch interessant werden, wie sich die Angriffsreihen davor aufstellen. Mit Millot, dem zuletzt engagiert auftretenden Jeong, Silas, Führich, Leweling und dem noch nicht genesenen Undav hat man hier auf dem Papier eine Vielzahl von Optionen. Wie in Leipzig gesehen, kann diese Offensive aber auch sehr schnell erlahmen, wenn ihr nichts mehr einfällt. Wenn Hoeneß die Puzzleteile richtig zusammensetzt, könnte der VfB so mehr Durchschlagskraft entwickeln.
Martin ist etwas überrascht, dass er das sonst eher ruhige Hoffenheim gegen einen unruhigen VfB eintauscht. Das Positive daran: Stiller will nach zwei mehr oder minder frustrierenden Jahren in Hoffenheim endlich durchstarten und sich als Stammspieler in der Bundesliga etablieren. Diese Motivation teilt er mit den in Freiburg und Berlin auf der Ersatzbank gelandeten Jeong und Leweling und mit Neuzugang Undav, der sich in Stuttgart für Höheres empfehlen will. Potenzial ist also da — wie eigentlich immer in Stuttgart, die Frage ist nur ob, sie es bei uns abrufen können, nachdem es schon bei anderen Vereinen nicht geklappt hat. Während Union, Freiburg und Brighton aber in einer anderen Liga als der VfB spielen, wäre Stiller mit Hoffenheim vergangenen Mai fast zum Endspiel um den Klassenerhalt in Stuttgart angetreten. Andererseits ist Stiller, den beide Experten als sehr bodenständig beschreiben, mit 22 noch relativ jung und hat trotzdem schon zwei Jahre Bundesligaerfahrung und war in verschiedenen Mannschaften Kapitän.
Rück- oder Fortschritt?
Hoffen wir, dass ein vertrauter Trainer und eine Mannschaft, in der er nicht erst durch Verletzungen von Kollegen zum Stammspieler wird, aus ihm dieses Potenzial herauskitzeln können. Auch wenn wie gesagt die Transferperiode noch nicht abgeschlossen ist, kristallisiert mittlerweile ein Muster heraus: Junge Spieler mit etwas Erfahrung in der Bundesliga, die ihre ins Stocken geratene Karriere beim VfB wieder zum Laufen bringen wollen. Im Besten Fall eine win-win-Situation für alle Beteiligten. Wie in der Vergangenheit aber natürlich auch eine Wette auf die Zukunft: Während es bei Spielern wie Silas, Millot, die sehr jung zum VfB kamen, oder Führich und Vagnoman, für die die Bundesliga der nächste logische Schritt war, immer nur bergauf ging, haben diese Spieler schon Rückschritte erlitten. Entweder sie ziehen daraus Stärke und entwickeln sich weiter — oder sie verharren auf dem Niveau. Wir dürfen gespannt sein.
Titelbild: © Markus Gilliar/Getty Images