Mit der Ankündigung, seinen 2022 auslaufenen Vertrag nicht zu verlängern, hat Thomas Hitzlsperger heute viele VfB-Fans überrumpelt. Die Entscheidung sollte allerdings niemanden ernsthaft überraschen und die Gründe und Folgen sind wahrscheinlich auch komplexer als viele Einschätzungen und Kommentare dazu.
Einträchtig standen sie dam 9. September, dem 128. Geburtstag des Vereins mit dem Brustring, nebeneinander, bewaffnet mit Kuchengabeln: Claus Vogt und Thomas Hitzlsperger. Im gängigen Narrativ des VfB-Jahres 2021 die großen Widersacher um die Macht beim VfB. Der Meistertorschütze 2007 gegen den Ultra-Präsidenten, der sportliche Macher gegen den Sitzungsmuffel. Sechs Tage später scheint die ganze Harmonie nicht mehr wert zu sein als die Glasur auf der 128-Jahres-Torte: Hitzlsperger wird seinen im kommenden Jahr auslaufenden Vertrag nicht verlängern.
Glückwunsch an die ganze #VfB-Familie! 128 Jahre und trotzdem immer noch #jungundwild! 😎🎂🎉 #aufuns #happybirthdaytous pic.twitter.com/tZ28sNyX1c
— VfB Stuttgart (@VfB) September 9, 2021
Wer gehofft hatte, dass all das, was im letzten Dreivierteljahr passiert ist und sogar in einer vierteiligen Artikelserie und einem Buch aufgearbeitet wurde, sich nach der Mitgliederversammlung am 18. Juli in Wohlgefallen auflöst, muss schon sehr blauäugig gewesen sein. Natürlich bestand die Hoffnung, dass die harschen Worte, die Hitzlsperger Anfang des Jahres gegenüber seinem Aufsichtsratsvorsitzenden wählte, mittlerweile Vergangenheit waren. Wer aber genau hinhörte, merkte, dass Hitzlsperger sich nur für die Form, nicht aber den Inhalt seines offenen Briefes entschuldigte. So musste er am Ende entscheiden, welche Auswirkung die Wiederwahl Vogts für seine weitere berufliche Planung hatte. Dabei muss die Wahl am Ende nicht mal der ausschlaggebende Grund gewesen sein — wahrscheinlich ist es indes schon.
Vogt-Land is coming?
Was in den kommenden Wochen folgen wird, ist so erwartbar wie ermüdend: Claus Vogt will den Verein umkrempeln und hat nach den Ehrenmännern Mutschler, Gaiser, Heim, Röttgermann und Porth jetzt auch Thomas “Hitzlspergeeeeeer” (Arena-Kommentator-19. Mai-Voice) rausgeekelt, abgesägt, rausgeworfen, nennt es wir ihr wollt. Brace yourselves, Vogt-Land ist coming. Meine Vermutung ist, dass es doch etwas komplexer ist. Dass Vogt und Hitzlsperger aus unterschiedlichen Gründen, die vielleicht persönlich, aber auf jeden Fall strukturell bedingt waren, lange Zeit nicht miteinander arbeiten konnten, ist offensichtlich. Über das persönliche Verhältnis kann ich nicht viel sagen, aber dass ein Vorstandsvorsitzender und ein Aufsichtsratsvorsitzender in einer Konstellation, für die es beim VfB keine Blaupause gibt, aneinander geraten, ist wenig überraschend und muss nicht mal unbedingt damit zu tun haben, dass beide mit Sicherheit auch Fehler gemacht haben. Wer jetzt aber die Entscheidung Hitzlspergers Vogt zum Vorwurf machen will, macht es sich zu einfach. Schließlich war es am Ende dessen Entscheidung, die es genauso zu respektieren gilt wie die Entscheidung von Vogt, sich zur Wiederwahl zu stellen.
Anders als der Abgang der oben genannten Ehrenmänner macht mich der angekündigte Abschied von Thomas Hitzlsperger natürlich schon betroffen. Weil ich ihn, unabhängig von seinen vereinspolitischen Irrtümern für einen sympathischen und intelligenten Menschen halte, der dem VfB nach den ganzen seltsamen Gestalten der Vergangenheit ein positives Gesicht gegeben hat. Nicht nur durch seine Person, sondern auch durch sein Engagement für gesellschaftspolitische Themen, die in Bad Cannstatt viel zu lange sträflich vernachlässigt wurden oder unerwünscht waren. Über die Umstrukturierungen der AG kann ich nur spekulieren, dass aber die Strukturen beim VfB schon lange nicht mehr zeitgemäß waren, liegt nicht ganz fern. Achja, die Strukturen. Wenn man in Stuttgart wieder eine Personalagentur auf die Suche nach einem neuen Vorstandsvorsitzenden schickt, kann man die nach Ansicht Vieler direkt auch einen Sportdirektor und einen Trainer, womöglich noch eine neue Sturmreihe suchen lassen, denn dass mit Hitzlsperger auch Mislintat und Matarazzo gehen, scheint für viele eine ausgemachte Sache.
Strukturen vor Personen
Nicht falsch verstehen: Mit Sicherheit wird sich mit Hitzlspergers Nachfolger nicht nur personell, sondern auch in Teilen konzeptionell etwas ändern. Die Frage ist: Wie viel? Thomas Krücken skizzierte im Juli 2020 bei den Kollegen der Nachspielzeit meiner Meinung nach recht gut, wie man versucht, im Nachwuchsleistungszentrum Strukturen in der Talentsichtung und ‑förderung zu etablieren, die unabhängig von den derzeit handelnden Personen sind. Es ist zu hoffen, dass diese Philosophie sich nicht nur auf den Jugendbereich bezieht, sondern generell auf die sportliche Führung. Sprich: Sven Mislintats und Pellegrino Matarazzos Verbleib beim VfB sollte nicht von ihrem Vorgesetzten abhängig sein. Es würde auch ein schlechtes Bild auf Hitzlspergers strukturelle Arbeit beim VfB werfen, wenn ohne ihn sportlich alles den Bach runter ginge. Und nicht nur weil Mislintat schon selber gesagt hat, dass er sich dem Aufbau einer neuen Mannschaft verschrieben hat, tun wir gut daran, nicht sofort den Teufel an die Wand zu malen. Mag sein, dass Mislintat mit einem neuen Vorgesetzten genausowenig klarkommt wie Hitzlsperger mit Vogt. Oder Matarazzo. Aber wenn wir jetzt anfangen, uns von Personen im sportlichen Bereich abhängig zu machen, sind wir wieder in den Zeiten von Fredi Bobic und Robin Dutt gelandet, als jeder Wechsel im sportlichen Bereich sofort zu einem Philosphiewechsel führte.
Ist das VfB-Schiff also schon im Sinken begriffen, oder kommt nur ein neuer Kapitän? Kann man aktuell noch nicht verlässlich sagen. Es ist jetzt Aufgabe des Aufsichtsrates um Claus Vogt, dem VfB wetterfeste Strukturen zu verschaffen. Wenn er sie nicht schon hat.
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