Man muss nicht mit allem zufrieden sein, was die VfB-Verantwortlichen in dieser Spätsommerpause machen — das heißt aber nicht, dass man sie gleich wieder zum Teufel jagen will.
Machen wir uns nichts vor: Die Stimmung rund um den VfB ist aktuell eher so
Das hat verschiedene Gründe: Der Aufstieg hat zwar geklappt, aber auf eine wenig zufriedenstellende Art und Weise. Weil die Mannschaft über weite Strecken der Saison entweder nicht das zeigte, was sie vermutlich konnte oder eben genau das — und somit vielleicht für das Projekt Wiederaufstieg nicht optimal zusammengestellt war. Was auch immer zutrifft, die offensichtliche Schlußfolgerung ist eine Verstärkung des Kaders. Aber auch da hakt es, weil dem VfB durch die Corona-Krise schlicht das Geld fehlt, um beispielsweise Gregor Kobel aus Hoppenheim oder Waldemar Anton aus Hannover ohne Weiteres loszueisen. Bisher gelang es Sven Mislintat nur, Konstantinos Mavropanos aus London auszuleihen — für vergleichsweise kleines Geld. Zwar ist das Transferfenster aufgrund der besonderen Umstände bis Anfang Oktober geöffnet, bereits am kommenden Montag starten die Brustringträger jedoch in die Vorbereitung, in eineinhalb Monaten beginnt bereits die kommende Saison. Gleichzeitig werden Ex-Spieler-Dampfplauderer wie Hansi Müller und Thomas Berthold, die gerne (wieder) einen Posten beim VfB hätten, sich aber selber ins Abseits geschossen haben, nicht müde, zu betonen, dass es mit diesem Kader schnurstracks zurück in die zweite Liga ginge.
Und überhaupt: Die Transfers. Wieso kauft Sven Mislintat die Weltjugend zusammen und lässt U19-Kapitän Per Lockl nach Mönchengladbach ziehen? Überlegt mal, was wir für eine Elf hätten, wenn wir nie einen Jugendspieler verkauft hätten. Kimmich! Gnabry! Werner! Khedira! Wir wären auf Jahre hinaus unschlagbar. Und was ist eigentlich mit dem einst zum Co-Trainer der Herzen erkorenen Rainer Widmayer passiert? Man weiß es nicht, aber immerhin hatte er mit einem Jahr Amtszeit vielen Cheftrainern in Bad Cannstatt etwas voraus. Hinzu kommt, dass diese Pandemie leider alles andere als ausgestanden ist und kein Mensch weiß, wann der VfB wieder in einem angemessen vollen Neckarstadion antreten wird. Ohne Mindestabstand, mit Stehplätzen und Stimmung. Diese ganze Gemengelage brach sich vergangene Woche in einem Artikel des Blogger-Kollegen Christian Prechtl in der Kontext-Wochenzeitung und der sich daran anschließen den Diskussion Bahn.
Mit spitzer Feder in die Wunde
Nun spitzt der Kollege Prechtl seine Feder bekanntermaßen vor dem Schreiben nochmal besonders scharf an und hat womöglich bessere Quellen und mehr EInblick in die Abläufe hinter den Kulissen als ich — ich hab nämlich weder Quellen, noch Insiderinfos. Und manches, was er schreibt, mag Übertreibung oder Überinterpretation sein. Aber, und das ist wichtig: Er legt den Finger in Wunden, die man beim VfB traditionell gerne unter riesigen Pflastern versteckt, wenn der Ball ruht. Was in den vergangenen Jahren bei Kritik an Wolfgang Dietrich und Michael Reschke, nennen wir sie der Einfachheit halber Dietreschke, noch breite Zustimmung fand, trifft, wenn es um Hitzlintat — wieder, eine sprachliche Vereinfachung, die aber den Stand der Debatte gut abbildet, wie wir gleich sehen werden — auf geteiltes bis ablehnendes Echo. Warum?
Zunächst einmal muss man feststellen, dass die oben genannten Punkte, die auch in Prechtls Artikeln aufgegriffen werden, nicht alle von der Hand zu weisen sind. Die VfB-Saison 2019/2020 kann man nur als Erfolgsgeschichte sehen, wenn man sie rein vom Ergebnis, dem geglückten Aufstieg, her betrachtet. Etwas, von dem ich den Verantwortlichen schon direkt nach dem Darmstadt-Spiel abgeraten habe. Angefangen von den so unnötigen wie vermeidbaren Auswärtsniederlagen in der Hinrunde, hin zum zigsten Trainerwechsel und verbunden damit das Strategiewechselspiel zwischen Erfolg und Kontinuität. Dass die eher mittelmäßigen Auftritte der Brustringträger regelmäßig von ihren Vorgesetzten in den höchsten Tönen gelobt wurden und gleichzeitig die hohe Erwartungshaltung als Grund für die teilweise nicht schönzuredende Punkteausbeute herhalten musste, passte dazu. Ich will nicht sagen, dass der VfB nur aufgestiegen ist, weil er unter anderem den HSV als direkten Konkurrenten hatte. Aber es fühlte sich gegen Ende schon ein wenig wie ein Meisterschaftskampf gegen Schalke an: Dass der Konkurrent am Enden scheitert, überrascht einen nicht.
Aber, aber
Dass Thomas Hitzlsperger und mutmaßlich auch Sven Mislintat von Wolfgang Dietrich und damit indirekt auch von dessen stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden Wilfried Porth in ihre jeweiligen Ämter gebracht wurden, vergessen viele gerne, oder wie es auf Stuttgart International heißt:
…die schöne Geschichte vom smarten Prinzen, der den maroden Club wieder ans Licht führt, klingt zwar verführerisch, hat mit der Wahrheit aber so wenig gemein wie alle anderen Märchen.
Und man kann durchaus fragen, warum der VfB seiner A‑Jugend, immerhin deutscher Vizemeister und Pokalsieger 2019, Spieler gleichen Alters aber mit teilweise weniger Meriten vor die Nase verpflichtet und wie Sven Mislintat diese Spieler gefunden hat. Aber, und es ist das erste von vielen abers, man darf auch nicht vergessen, dass es selbst in einem sehr guten U19-Jahrgang nur die wenigsten in die Bundesliga und damit auf das Niveau, auf dem sich der VfB wieder etablieren will, schaffen. Man frage nur nach bei ehemaligen Toptalenten wie Ari Ferati, Max Besuschkow oder Prince Osei Owusu, die sich jetzt in der zweiten und dritten Liga wiederfinden. Natürlich war die Durchlässigkeit in den Profikader in den letzten Jahren ein Problem und natürlich hat man Kimmich und Leno vergrault, aber manche Jugendspieler kann mangels sportlicher Perspektive einfach nicht halten, weil aktuell Mönchengladbach eben attraktiver ist und damals Manchester City (Karius) oder Arsenal (Gnabry). Dass Sven Mislintat ein Netzwerk hat und irgendwie an einer Datenanalyse-Firma beteiligt zu sein scheint, die auch für Bielefeld arbeitet, kann ein Problem sein, wird es aber meiner Meinung nach erst, wenn er wie Reschke Spieler wie Maffeo anschleppt, weil er Pep Guardiola einen Gefallen tun will.
Gebrannte Kinder
Also zurück zur vor ein paar Absätzen gestellten Frage: Warum wird derzeit so kontrovers, zumindest auf Twitter und vielleicht auch dort, wo man es nicht schriftlich mitverfolgen kann, über Hitzlintat diskutiert? Weil VfB-Fans gebrannte Kinder sind, nachdem der Verein von den wechselnden Verantwortlichen über zehn Jahre erst heruntergewirtschaftet wurde und man als Mitglied und Fan in den drei Jahren vor dem letzten Sommer regelmäßig entweder verarscht, für dumm verkauft oder gleich herbeleidigt wurde. Für die einen resultiert daraus ein Misstrauen, das teils gesund, teils ungesund ist. Für die anderen entsteht daraus ein großes Verlangen nach Harmonie und Ruhe im Verein und der Wunsch, Hitzlsperger, Mislintat und auch Präsident Claus Vogt seien die edlen Ritter, auf deren Pferden wir selig in den Sonnenuntergang reiten.
Ich kann beide Seiten verstehen, denn ich bin genauso misstrauisch wie harmoniebedürftig. Wir sollten aber als Fans nicht den Fehler machen, uns in der Bewertung der Arbeit der VfB-Verantwortlichen von Sympathien blenden zu lassen. Ja, Claus Vogt und Thomas Hitzlsperger stoßen vor allem neben dem Platz viele richtige und wichtige Dinge an, aktuell zum Beispiel eine Wertedebatte innerhalb des Vereins. Entscheidend ist aber, wie so etwas mit Leben gefüllt wird, denn einen Verhaltenskodex führte auch Wolfgang Dietrich auf der Geschäftsstelle ein — sie war ihm halt selber scheinbar ziemlich wurscht. Genauso wird man die Arbeit des Dritten im Bunde, Sven Mislintat seriös erst zu Beginn der Saison 2022/2023 bewerten können, wenn er den VfB als Sportdirektor erfolgreich durch die wundertütige erste und die knochenharte zweite Saison nach dem Aufstieg manövriert hat. Bis dahin kann man ihn für cool halten oder glauben, dass der VfB vor seiner Ankunft Scouting nur mit Zettel, Stift und Youtube betrieben hat oder ihm sein Netzwerk und seine Firma vorhalten. Aber er muss genauso wie die anderen beiden liefern und das nachhaltig. Egal wie schön Hitzlspergers Hammer am 19. Mai 2007 war: Es heißt, wachsam zu bleiben.
Nicht gleich mit Kanonen schießen!
Wachsam bleiben heißt aber nicht, die teilweise berechtigte Kritik als Schießpulver herzunehmen, um alle Verantwortlichen aus dem Weg zu kanonisieren.
Das habe ich neulich schon einmal nach der Pleite gegen Karlsruhe thematisiert. Die Schlußfolgerung der Kritik kann nicht jedes Mal lauten, dass der Kritisierte ungeeignet für seinen Job ist und schleunigst entlassen werden sollte. Das hatten wir in der Vergangenheit zu häufig. Gleichzeitig muss man aber Kritik und kritische Töne auch soweit aushalten, als dass man nicht hinter jedem kritischen Wort eine Rücktrittsforderung oder Demissionskampagne vermutet. Kritik muss konstruktiv sein, aber auch als solche angenommen werden, damit man Fehler in der Zukunft vermeidet und es besser macht. Zum Beispiel einen Stammtorhüter fest verpflichtet statt ihn auszuleihen um nicht mit dem Berater von Julian Pollersbeck sprechen zu müssen, auch wenn das ja scheinbar glimpflich ausgegangen ist.
Ich hab das schon mal als Tweet formuliert und eine Antwort hat mich zur Überschrift dieses Artikels inspiriert.
Der ständige Dualismus… Anstrengend
— Iddavi (@Iddavi1893) July 22, 2020
Es ist halt doch alles etwas komplexer, als es den Anschein hat und wir müssen auch in der Diskussion über den VfB über das Schwarzweiß-Denken hinauskommen.
Titelfoto: © Frank Eibner, Pressefoto EP
Was ist denn konkret (!) Eure konstruktive (!) Kritik an der aktuellen Führungsriege? Zu sagen, dass man Kobel nicht hätte leihen dürfen ist keine konstruktive Kritik, solange man nicht erklärt welcher erstligataugliche Keeper bereit gewesen wäre zu einem Absteiger zu wechseln. Wir haben in der Regel einfach zu wenig Informationen, um fundiert zu beurteilen, ob einzelne Entscheidungen richtig oder falsch waren. Von daher bleibt am Ende nicht viel Anderes übrig als zu entscheiden ob wir der Führung vertrauen oder nicht, was letztlich wieder viel mit der kritisierten Sympathie zu tun hat. Zumal es bei Hitzlsperger auch konkrete Anzeichen gibt, dass er diese Sympathie nicht nur vor der Kamera genießt sondern auch nach intern. Was ja schonmal ein gehöriger Fortschritt in Sachen Führungskultur vor allem gegenüber Dietrich und auch dem gerne vergötterten Schindelmeiser wäre.
Hallo Bernd,
erwartest Du jetzt ernsthaft von mir, dass ich Dir eine Alternative zu Kobel für den letzten Sommer aus dem Hut zaubere? Sorry, mein Matchmetrics-Account ist nicht mehr aktiv. 😉
Aber ernsthaft: Es hätte bestimmt auch die Möglichkeit gegeben, einen Torhüter fest zu verpflichten. Genauso wie man sich vorher hätte überlegen können, ob Tim Walter wirklich die richtige Wahl war. Oder ob man jetzt Kontinuität, oder den Aufstieg um jeden Preis haben möchte. Natürlich habe ich nicht alle Informationen, oder es wurde einfach nicht nachvollziehbar erklärt, warum man solch Entscheidungen getroffen hat.
Ich halte jedenfalls nichts davon, eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen, der Vereinsführung zu vertrauen. Ich sehe wie Du auch einen Fortschritt im Bereich Führungs- und nennen wir es mal Unternehmenskultur. Aber das ist halt nicht alles.
Viele Grüße, Lennart