Marcin Kaminski war der erste Spieler, den wir vor fünf Jahren auf diesem Blog vorgestellt haben. Nach dieser Saison verlässt er den VfB zum zweiten Mal — diesmal wohl endgültig. Zum Abschied eines Spielers, der immer ein bisschen unter dem Radar blieb.
“Wir sind die letzten Dinos, die übrig geblieben sind.” schrieb Ersatztorhüter-Urgestein Jens Grahl auf Instagram am Tag nachdem Marcin Kaminski zum 63. und wahrscheinlich letzten Mal das Trikot mit dem Brustring trug. Dabei ist es eigentlich nur Grahl, der seit 2016 ununterbrochen im Kader steht. Dass Kaminski in vier Jahren beim VfB — von 2016 bis 2018 und von 2019 bis 2021 auf nur 63 Bundesliga-Spiele kam und dass durch seine zwischenzeitliche Leihe nach Düsseldorf der erst 2018 verpflichtete Daniel Didavi der dienstälteste Feldspieler im aktuellen Kader ist, sagt viel aus — über Kaminski wie über den VfB.
Es ist eine seltsame Ironie, dass er mit seiner Vertragsunterschrift bei Schalke in der vergangenen Woche bereits zum dritten Mal in seinen fünf Jahren in Deutschland zu einem Zweitligisten wechselt. Erst zum 2016 abgestiegenen VfB, zu dem er nach dem Abstieg 2019 von seiner Leihe zurückkehrte und jetzt eben die 2021 abgestiegenen Schalker. Und schon sein Start in Stuttgart verlief holprig: Erst am 11. Spieltag der Zweitliga-Saison 2016/2017 stand er das erste Mal auf dem Platz, ausgerechnet beim Derbysieg in Karlsruhe. Zuvor hatte Jos Luhukay bereits das Handtuch geworfen, der ihn, in Abwesenheit eines Sportvorstandes, zwar verpflichtet, aber nicht eingesetzt hatte. Stattdessen lief Kaminski drei Mal für die gerade in die Regionalliga abgestiegene zweite Mannschaft auf. Unter Hannes Wolf wurde er zur Stammkraft und beim sehr zähen Auswärtsspiel bei 1860 München sogar zum Torschützen, als Wolf ihn kurz vor Schluss ins Sturmzentrum beorderte. Einen Trick, den er in der Folgesaison beim Heimspiel gegen den anderen Münchner Verein erfolglos wiederholte. Erfolglos deshalb, weil Kaminski nicht den verletzungsbedingt ausgewechselten Simon Terodde ersetzen konnte, weil Chadrac Akolo in der 95. Minute jenen Elfmeter gegen Sven Ulreich verschoss, von dem er sich scheinbar beim VfB nie mehr erholte und erfolglos auch deshalb, weil es Hannes Wolf als Verzweiflungstat ausgelegt wurde. Wenige Spiele später verlor der VfB zu Hause gegen Schalke mit 0:2, Hannes Wolf wurde beurlaubt und Marcin Kaminski sollte nie wieder ein Bundesliga-Spiel über 90 Minuten für den VfB bestreiten.
Stammspieler in der zweiten Liga und in Düsseldorf
Denn unter Tayfun Korkut kam er nur noch sporadisch zum Einsatz und wurde anschließend, als man dachte, man sei als Siebtplatzierter und Bayern-Bezwinger auf Jahre hin unschlagbar, zu Fortuna Düsseldorf verliehen. Mit denen hielt er — anders als der VfB — die Klasse und kehrte zurück ins erneut zweitklassige Stuttgart. Es ist wahrscheinlich müßig zu spekulieren, ob Kaminski heute ein anderes Standing beim VfB hätte, hätte er sich nicht nach den ersten 35 Minuten der Zweitliga-Saison das Kreuzband gerissen — für ihn wurde der unglückliche Maxime Awoudja eingewechselt, der erst ein Eigentor erzielte und dann mit gelb-rot vom Platz musste. Anfang März 2020 stand er beim Heimspiel gegen Bielefeld dann wieder im Kader, konnte aber wegen der Corona-Pause erst im Mai wieder gegen den Ball treten. Dann wieder regelmäßig, denn unter Pellegrino Matarazzo zählte er in der meist holprigen Restrunde zum Stammpersonal. Sein Arbeitsnachweis in der gerade abgelaufenen Saison liest sich hingegen überschaubar: 65 Minuten gegen Freiburg, eine gegen Hertha, 56 gegen Köln, 85 gegen Union und jene elf gegen Arminia Bielefeld. Was sicher auch daran liegt, dass sich mit den Neuzugängen Waldemar Anton und Konstantinos Mavropanos sowie dem wieder erstatten Marc Oliver Kempf eine Dreierkette gefunden hatte, die zwar auch viele Gegentore zuließ, aber nur durch Verletzungen zu trennen war.
Was wird uns also von Marcin Kaminski in Erinnerung bleiben? Abgesehen von der für Spieler selten optimalen Situation, dass er beim VfB in vier Jahren fünf verschiedene Trainer hatte wirkte er auf mich immer ein bisschen behäbig, hüftsteif und auch nicht besonders zweikampfstark. Posen-Experte Jacek, den ich damals zur Verpflichtung von Kaminski interviewte, kündigte mir bereits an, dass Zweikämpfe nicht seine Stärke seien, Kaminski schätze manche Situationen falsch ein und grätsche lieber einmal zu wenig als einmal zu viel. Fortuna-Experte Thomas Nowag bescheinigte ihm während seiner Zeit in Düsseldorf in unserem Leihspieler-Artikel zur Winterpause fehlende Schnelligkeit. Ein zweitligatauglicher, für die Bundesliga jedoch unterdurchschnittlicher Innenverteidiger also? Nunja. Gleichzeitig lobte Thomas damals Kaminskis Übersicht und Stellungsspiel, ähnliches kündigte mir Jacek an, und schob nach: ” Wenn es darum geht, das Spiel zu eröffnen, ist er der richtige Mann für Euch. In Polen ist er bekannt als ein Verteidiger, der den Ball ohne Probleme direkt zum Stürmer durchstecken kann.” Bälle, die direkt zum Stürmer durchgesteckt werden, verbinden wir ja seit seinem mittlerweile legendären Vertikalpass gegen Fürth eher mit Benjamin Pavard. Aber erst unlängst konnten wir beobachten, dass in Kaminski mehr steckt(e) als nur ein passabler Innenverteidiger.
Rational, intelligent, subtil
Jonas Bischofberger, Taktikexperte bei VfBtaktisch.de, ließ mich neulich aufhorchen, als er im Podcannstatt von MeinVfB Marcin Kaminski als den “Nerd-Pick” nannte, wenn es um taktisch interessante Spieler ginge. Ich habe ihn gebeten, dass ein bisschen näher auszuführen:
Ich denke dass vor allem sein Aufbauspiel besser ist als es auf den ersten Blick scheint. Man kann bei guten Aufbauspielern aus meiner Sicht ganz grob zwei Gruppen unterscheiden: Es gibt die “Kreativen”, die trotz weniger Anspieloptionen effektive, unerwartete Lösungen finden und die “Rationalen”, die aus vielen Anspieloptionen zuverlässig die beste auswählen können. Pavard oder auch Kempf sind Beispiele für am Ball kreativ veranlagte Verteidiger, sie auch mal die spektakuläre Aktion auspacken. Kaminski ist eher ein rationaler, intelligenter, subtiler Aufbauspieler. Er sucht immer Optionen, aus denen sich Angriffe entwickeln können, anstatt das Spiel zum Beispiel mit Pässen auf bedrängte oder isolierte Mitspieler in eine Sackgasse zu leiten. Vor allem aber führt er seine Aktionen extrem detailverliebt aus. Seine Pässe kommen oft mit genau dem richtigen Tempo und Drall in den Lauf des Mitspielers, sodass dieser den Ball leicht und sinnvoll weiterverarbeiten kann. Kaminski denkt insofern nicht nur an seinen eigenen Pass, sondern übernimmt auch Verantwortung für die nächste Aktion des Mitspielers und den gesamten Angriff. Das ist schon etwas Besonderes. Wie sich das in Extremform darstellt, konnte man bei seinem Pre-Assist zum 1:2 gegen Union sehen. Dieses Tor ist ja eigentlich schon gefallen, bevor Kalajdzic die Ablage auf Förster spielt.
Kurz: Kaminski ist ein Pragmatiker, einer der nicht nur defensiv meist weiß, wo er zu stehen hat, um seine mangelnde Schnelligkeit auszugleichen, sondern einer, der auch offensiv mitdenkt und zwar ein paar mehr Ecken als manch anderer. Er wird uns mit also mit Sicherheit nicht als Legende der Innenverteidigung in Erinnerung bleiben — aber als jemand, der stets wusste, was er tat und was er kann. Und, wie man hört, als exzellenter Teamplayer. Eigenschaften, die seinem neuen Arbeitgeber mit Sicherheit gut zu Gesicht stehen.
Mach’s gut, Marcin und alles Gute!
Titelbild: © imago