Nach dem 0:2 gegen Bielefeld beendet der VfB die Bundesliga-Saison 2020/2021 auf Platz 9. Damit endet eine Spielzeit, wie wir sie uns — mit einer Ausnahme — schon lange gewünscht haben.
Ja, das deutsch-englische Bonmot des ehemaligen BVB-Meistertorhüters Roman Weidenfeller wird seit Jahren immer wieder gerne zitiert. Dem will ich mich hier aber gar nicht anschließen, denn nicht nur ist das hier ein VfB-Blog, es passt auch nicht zur Saison des VfB. Es war keine “grandios” Saison, denn in einer solchen hätten die Brustringträger und nicht Union Berlin in letzter Sekunde die erste Europapokalteilnahme seit acht Jahren klar gemacht. Das soll keine Kritik sein, Mannschaft und Verantwortliche haben für diese Saison ein großes Lob verdient. Aber für diese Saison braucht es ein anderes Adjektiv: Bemerkenswert.
Und das nicht nur, weil der VfB — und damit will ich kurz auf das zurückliegende Spiel eingehen — am letzten Spieltag eben kein völlig wahnwitziges 4:1 in München herausschoss, sondern ziemlich unnötig zum zweiten Mal in dieser Saison gegen den Mitaufsteiger aus Ostwestfalen verlor. Das Spiel passte zu einer Saison, in der der VfB nie wirklich in Abstiegsgefahr geriet und sich deshalb solche und andere Niederlagen leisten konnte. Insgesamt verlor die Mannschaft sogar einmal häufiger, als sie gewann. Erstaunlicherweise holte sie aber in der Rückrunde, als man annahm — und sehen konnte — dass ihr langsam die Luft und auch das Personal ausging — mehr Punkte als in der Hinrunde, als man einen furiosen Sieg über den BVB feierte. Von diesem Furor war am Samstagnachmittag nicht mehr viel zu sehen. Auch wenn Bielefeld erstaunlich wenig dazu beitrug, den eigenen Klassenerhalt zu sichern, gelang dem VfB abgesehen von einem knappen Abseitstor nicht besonders viel, was einmal mehr an der Passungenauigkeit im letzten Drittel lag. Die Gegentore, ein etwas dämlich von Naouirou Ahamada verursachter Foulelfmeter und Geleitschutz für Ritsu Doan im VfB-Strafraum, kamen dann zwar etwas überraschend, aber dennoch folgerichtig. Durch die frühe Gladbacher Führung in Bremen ging auch nach oben nichts mehr für den VfB und so war dann in der letzten Halbzeit dieser Saison irgendwie doch die Luft raus.
No worries
Apropos Gegentore: Nur eines hätte noch gefehlt, und der VfB hätte die Saison mit einem ausgeglichenen Torverhältnis beendet. Dass sich Siege und Niederlage, Tore und Gegentore im Tabellenmittelfeld die Waage halten, ist nicht sonderlich bemerkenswert. Viel mehr hingegen, dass die Mannschaft mit 56 so viele Tore schoss wie seit fast zehn Jahren nicht mehr, dass mit Sasa Kalajdzic zum ersten Mal in dieser Zeitspanne wieder ein VfB-Stürmer 16 Tore oder mehr in einer Saison erzielte — und er hätte sogar mit Martin Harnik von 2011/2012 gleichziehen können, wäre der VAR etwas weniger kleinlich gewesen. Aber es waren nicht nur die nackten Zahlen, die diese Saison so bemerkenswert machen. Da war eine Mannschaft, die nicht nur ab und zu in der Lage war, ihren Gegnern ein paar Tore mehr als nötig einzuschenken, sondern die auch nie aufgab, bis zuletzt um jeden Punkt kämpfte und dafür auch belohnt wurde. Bemerkenswert deshalb, weil diese Eigenschaft den Brustringträgern der vergangenen Jahre häufig abging. Am heutigen 23. Mai, an dessen Abend ich diesen Text schreibe, jährt sich nicht nur der Klassenerhalt in Paderborn zum sechsten und das Relegations-Hinspiel gegen Union zum zweiten Mal, nein, es ist auch nur etwas mehr als fünf Jahre her, dass der VfB in Wolfsburg zum ersten Mal seit knapp 40 Jahren abstieg und mich in einen Gefühlszustand versetzte, den Dirk Gieselmann in seinem Text über den Abstieg Werder Bremens sehr treffend beschrieben hat:
Doch jetzt ist es wieder geschehen. Wieder, ja – und doch zum ersten Mal in meinem bewussten Leben. Leere macht sich breit, eine Leere, die so unermesslich und öde ist wie die Leere in der Pokalvitrine von 1899 Hoffenheim. Das einzige, worauf ich Lust hätte, wäre, am Bahnhof von Diepholz, von wo aus ich so oft zu Heimspielen aufgebrochen bin, in der Kneipe zu sitzen, lange, sehr lange zu schweigen und dann, nachdem ein oder zwei oder drei Schnäpse meine Zunge gelöst haben, irgendwann „Tja“ zu sagen. Im Hintergrund würde jemand leere Bierdosen auf die Dartscheibe werfen. Und in die Stille hinein, die nur unterbrochen würde vom Scheppern der Dosen und dem ratlos-melancholischen Dudeln des Spielautomaten, würde mein treuer Gefährte neben mir entgegnen: „Wollt ich auch gerade sagen.“
Vor der Saison geirrt
Dieser Gemütszustand blieb uns dieses Jahr glücklicherweise erspart, nur einmal hatte ich die Befürchtung, dass doch alles fürchterlich schief gehen konnte: Vor Saisonbeginn, als wir mit unserer Abwehr eigentlich ganz zufrieden waren, aber uns nach einer rumpeligen Aufstiegssaison fragten, wer verdammt noch mal eigentlich die Tore schießen soll. Tja, so kann man sich irren. Jetzt ist es sogar so weit, dass der VfB Begehrlichkeiten bei der Konkurrenz weckt und Meuschi gefühlt der Einzige ist, der nicht bei einem anderen Verein auf dem Zettel steht. Das Bemerkenswerte daran ist wiederum, dass mir das keine schlaflosen Nächte bereitet.
Natürlich sollten wir jetzt nicht den Fehler begehen, zu blauäugig in die kommende Saison zu gehen. Junge Spiele können in ihrer Entwicklung auch zeitweise stagnieren und eine erfolgreiche Transferpolitik ist kein Automatismus. Auch nächste Saison geht es um nichts anderes als den Klassenerhalt, erfreulicherweise ist es diesmal die sportliche Leitung, die das mantraartig wiederholt. Genießen wir also den Rückblick und die Erinnerung an diese bemerkenswerte Saison — mit einem kleinen Wermutstropfen: Wir konnten sie nicht im Stadion erleben.
Zum Weiterlesen: Der Vertikalpass feiert die Mannschaft in einer ganzen Serie von Artikeln, Stuttgart.international verabschiedet die Corona-Saison.
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