Der falsche Burgfrieden

Der VfB spielt die schlech­tes­te Bun­des­li­ga-Sai­son sei­ner Geschich­te. Die pre­kä­re sport­li­che Situa­ti­on offen­bart die gan­ze Unter­kom­ple­xi­tät des Fuß­ball­ge­schäfts, denn für die Ver­eins­füh­rung gilt jetzt: Wer nicht für uns ist, ist gegen die Mann­schaft.

Eigent­lich ist Abstiegs­kampf für uns VfB-Fans ja nichts Neu­es mehr. Mit weni­gen Aus­nah­men war der Tabel­len­kel­ler in den letz­ten fünf Jah­ren qua­si unser natür­li­cher Lebens­raum, das Ban­gen und Hof­fen in der Rück­run­de, ob und wie wir uns dies­mal aus der Affä­re zie­hen, ist uns mitt­ler­wei­le in Fleisch und Blut über­ge­gan­gen. War­um ist es im Jahr 2019 trotz­dem schlim­mer als in den Jah­ren 2018, 2016, 2015 oder 2014? Weil dies­mal alles anders sein soll­te. Dass das ers­te Jahr nach dem Auf­stieg schwer wer­den wür­de, war klar. Und dass am schlei­chen­den Nie­der­gang des Ver­eins in den letz­ten zehn Jah­ren nicht nur per­so­nel­le Fehl­ent­schei­dun­gen auf dem Platz und man­geln­de Kon­ti­nui­tät auf den Füh­rungs­po­si­tio­nen, son­dern auch das eiser­ne Spar­dik­tat des Uli Ruf schuld war, eigent­lich auch. Aber dies­mal haben wir ja einen Prä­si­den­ten, der nach eige­ner Aus­sa­ge für “Glaub­wür­dig­keit und Kon­ti­nui­tät” steht und hat­ten einen Sport­vor­stand, der dank der Aus­glie­de­rung in einem Som­mer fast so viel Geld für Neu­zu­gän­ge aus­ge­ben konn­te, wie sei­nen Vor­gän­gern als Per­so­nal­etat für eine gan­ze Sai­son zur Ver­fü­gung stand. Unter die­sen Vor­zei­chen ist die Bilanz von jeweils zwei ent­las­se­nen Trai­nern und Sport­vor­stän­den sowie die in mehr­fa­cher Hin­sicht schlech­tes­te Bun­des­li­ga-Sai­son der Ver­eins­ge­schich­te ver­hee­rend und hat selbst für den VfB Stutt­gart eine ganz neue Qua­li­tät.

Aufruf zum Nichtstun

Es gibt also der­zeit mehr als genug Anlass zur Kri­tik. Beim VfB liegt offen­sicht­lich nicht nur sport­lich viel im Argen, son­dern auch auf der Füh­rungs­ebe­ne, denn die Per­so­nal­po­li­tik hat nichts mit Kon­ti­nui­tät zu tun und auch die Glaub­wür­dig­keit lässt stark zu wün­schen übrig. War­um, das habe ich bereits hier und hier schon ein­mal auf­ge­schrie­ben. Ist es nicht selbst­ver­ständ­lich, dass man als Fan ange­sichts der desas­trö­sen Situa­ti­on sei­nes Her­zens­ver­eins den Mund auf­macht? Schein­bar nicht.

Es wür­de dem VfB am meis­ten hel­fen, wenn die Fans in den letz­ten zwölf Spie­len der berühm­te zwölf­te Mann wären. Und zwar ohne wenn und aber – und über not­falls auch 95 Minu­ten. Daher mei­ne Emp­feh­lung: Lasst sie doch mal machen beim VfB!

Das ist die an Kom­ple­xi­tät kaum zu unter­bie­ten­de Ana­ly­se von Tho­mas Wehr­le, Sport­re­dak­teur beim Süd­west­rund­funk. Diet­rich möge zwar Feh­ler gemacht haben, aber nur neben dem Platz. Und über­haupt: “Wem soll die­se Kam­pa­gne aus­ge­rech­net jetzt nüt­zen?” fragt Wehr­le. Denn schließ­lich habe man doch gegen Leip­zig schon eine Ver­bes­se­rung gese­hen, wie kann man denn als Fan jetzt das zar­te Pflänz­chen Hoff­nung mit “Diet­rich raus!”-Rufen zer­tre­ten? Er liegt damit selbst­ver­ständ­lich kom­plett auf Ver­eins­li­nie, denn vom Prä­si­den­ten über den neu­en Sport­vor­stand bis hin zum Trai­ner und dem Mann­schafts­ka­pi­tän beto­nen alle uni­so­no, man müs­se jetzt zusam­men­hal­ten und die Mann­schaft im Kampf gegen die über­mäch­ti­ge Sog­wir­kung des Abstiegs unter­stüt­zen.

Als ich das las, muss­te ich an einen zen­tra­len Satz aus der Repor­ta­ge der 11Freun­de-Redak­teu­re Andre­as Bock und Ron Ulrich über die Cau­sa Özil den­ken: Eine über­kom­ple­xe Debat­te für eine unter­kom­ple­xe Bran­che. Natür­lich hat die Dis­kus­si­on um Wolf­gang Diet­rich weder die sport­li­che noch die media­le oder gesell­schafts­po­li­ti­sche Trag­wei­te wie die Debat­ten um Mesut Özil. Aber im Kern trifft die Aus­sa­ge zu: Weil es vie­len zu kom­pli­ziert ist, sich mit dem Ein­fluss, den Wolf­gang Diet­rich auf die aktu­el­le Situa­ti­on hat, zu befas­sen, ver­fällt man in ein­fa­che Denk- und Ver­hal­tens­mus­ter und unter­stellt jenen, die jetzt Kri­tik an der Ver­eins­füh­rung üben, Fah­nen­flucht.

Es geht auch beides

Caro­lin Emcke hat mal in einer ganz her­vor­ra­gen­den Kolum­ne in der Süd­deut­schen Zei­tung den Begriff “Logik der fal­schen Alter­na­ti­ven” gebraucht. Auch hier erscheint es zunächst albern, das auf ein pro­fa­nes The­ma wie den Fuß­ball anzu­wen­den. Aber der Fuß­ball und die Art, wie dar­über gere­det wird, ist, wie eben fest­ge­stellt, so durch­schau­bar wie ver­ein­fa­chend. Emcke schreibt:

Gewiss, simp­le Sche­ma­ta gehö­ren zum geläu­fi­gen Reper­toire des Den­kens oder Spre­chens über Kul­tu­ren oder Per­so­nen. Jeder und jedem von uns pas­siert es manch­mal, dass wir in vor­ge­stanz­ten Asso­zia­ti­ons­ket­ten und Res­sen­ti­ments den­ken, ohne es zu mer­ken. Aber man­che Figu­ren fal­scher Gegen­sät­ze ver­stüm­meln nicht nur die indi­vi­du­el­le Fan­ta­sie, son­dern ver­en­gen auch fatal den Spiel­raum poli­ti­scher Debat­ten. Sie kon­stru­ie­ren ver­meint­li­che Zwick­müh­len, die logisch daher­kom­men, es aber nicht sind. Sie sug­ge­rie­ren, man müs­se sich ent­schei­den zwi­schen sich wech­sel­sei­tig aus­schlie­ßen­den Optio­nen, die sich aber in Wirk­lich­keit gar nicht aus­schlie­ßen. Des­we­gen ver­wir­ren die­se Mus­ter so: Weil sie einen unter Druck set­zen, zwi­schen zwei Vari­an­ten zu wäh­len, die für einen nicht stim­men oder die gar kei­ne Vari­an­ten sind.

Dem­entspre­chend passt natür­lich eine län­ge­re Erklä­rung einer Ultra-Grup­pe, die sich so natür­lich nicht in einem Sprech­chor ange­mes­sen wie­der­ge­ben lässt, nicht ins Bild. Genau­so wenig wie die laut­star­ke Unter­stüt­zung der Mann­schaft, egal wie erbärm­lich die Leis­tun­gen sind. In Düs­sel­dorf bei­spiels­wei­se lagen die Brust­ring­trä­ger bei einem Auf­stei­ger bereits hoff­nungs­los mit 0:3 zurück, als der Gäs­te­block begann, sei­ne Kri­tik an Wolf­gang Diet­rich laut­stark zu äußern. Und gegen Leip­zig schoss Mario Gomez sogar noch ein lei­der wegen Abseits aberkann­tes Anschluss­tor, wäh­rend die Cannstat­ter Kur­ve den Prä­si­den­ten zum Rück­tritt auf­for­der­te. Viel­leicht hilft “Diet­rich raus!” am Ende sogar der Mann­schaft? Spaß bei­sei­te. Der Ein­druck, den der Prä­si­dent ver­mit­teln will und der von vie­len, denen die Ursa­che der Kri­tik an Diet­rich zu kom­plex ist, wei­ter­ge­tra­gen wird ist fol­gen­der: Wer im Sta­di­on laut­stark den Prä­si­den­ten zum Rück­tritt auf­for­dert, scha­det der Mann­schaft im Abstiegs­kampf. Also ent­schei­det Euch: Ent­we­der Ihr seid  für den Prä­si­den­ten oder gegen die Mann­schaft!

Dass bei­des gleich­zei­tig mög­lich ist, will vie­len schein­bar nicht in den Kopf, auch wenn es jedes Wochen­en­de schon allei­ne mit dem Sprech­chor “Stutt­gart kämp­fen, Diet­rich raus” gelebt wird. Die Mann­schaft zu unter­stüt­zen und den Prä­si­den­ten zu kri­ti­sie­ren sind eben kei­ne sich gegen­sei­tig aus­schlie­ßen­den Alter­na­ti­ven. Genau­so wie die Kri­tik an Wolf­gang Diet­rich kei­ne Kri­tik an der gera­de neu als Sport­vor­stand ein­ge­setz­ten Ver­eins­le­gen­de Tho­mas Hitzl­sper­ger ist, auch wenn Diet­rich viel­leicht gehofft hat, die Kri­tik an ihm wür­de schwin­den, nur weil Hitz in die Kame­ra lächelt und klu­ge Sachen sagt. Aber das ist natür­lich genau­so Kal­kül wie der vom Prä­si­den­ten ver­ord­ne­te Burg­frie­den. In gewis­ser Wei­se pro­fi­tiert Diet­rich durch sol­che Kom­men­ta­re wie dem von Herrn Wehr­le oder durch das stu­pi­de Wie­der­ho­len des Unworts “Neben­kriegs­schau­platz” sogar von der Kri­se. “Lasst sie mal machen beim VfB” heißt auch: Nehmt ein­fach alles hin,  was der Prä­si­dent macht. Eine Her­an­ge­hens­wei­se, die sonst nur Auto­kra­ten für sich in Anspruch neh­men, die sich aber auf dem Niveau, auf dem über Fuß­ball dis­ku­tiert wird, pri­ma ver­fängt.

Eine Beleidigung

Der fal­sche Burg­frie­den ist aber nicht nur Augen­wi­sche­rei, er ist auch eine Belei­di­gung für jene, sich mit viel Herz­blut Sor­gen um ihren Ver­ein machen. Die schon seit Jah­ren der zwölf­te Mann sind und auch am ver­gan­ge­nen Sams­tag in der Mas­se viel eher in der Lage waren zu dif­fe­ren­zie­ren, als es Kom­men­ta­to­ren wie Wehr­le ver­mö­gen. Da wur­de näm­lich die Leis­tung der Mann­schaft hono­riert, nach­dem man der Kri­tik am Prä­si­den­ten Aus­druck ver­lie­hen hat­te. Er ist eine Belei­di­gung für jene, die sich die Fin­ger wund tip­pen und den Mund fus­se­lig reden um zu ver­su­chen, her­aus zu arbei­ten, was beim VfB eigent­lich schief läuft. Nicht zuletzt ist er ist eine Belei­di­gung des Intel­lekts vie­ler VfB-Fans, die längst nicht mehr in so simp­len Sche­ma­ta den­ken, wie der Prä­si­dent das ger­ne hät­te oder wie es denk­fau­le Zeit­ge­nos­sen ger­ne tun.

Es ist ja durch­aus legi­tim, die Kri­tik an Diet­rich nicht zu tei­len, genau­so wie ich die der­zeit vor­herr­schen­de Kri­tik an Micha­el Resch­ke nicht unein­ge­schränkt tei­le. Sie aber unter Ver­weis auf das angeb­lich des­we­gen bedroh­te Wohl des Ver­eins zu dele­gi­ti­mie­ren, ist unlau­ter. Wenn das der Prä­si­dent tut, ist es halt die Macht­po­li­tik, die man von ihm gewöhnt ist. Wenn das die Vor­stän­de und Ange­stell­ten der AG machen, ist das aus Ihrer Sicht wahr­schein­lich sogar sinn­voll, um ihren Job zu behal­ten. Umso wich­ti­ger ist eine kri­ti­sche Fan- und Mit­glie­der­öf­fent­lich­keit, die sich nicht von ein­fa­chen Paro­len in mora­li­sche Gei­sel­haft neh­men lässt. Und ein kri­ti­scher Sport­jour­na­lis­mus, der Macht­me­cha­nis­men auf­deckt und dekon­stru­iert, statt ihnen das Wort zu reden.

1 Gedanke zu „Der falsche Burgfrieden“

  1. Das kann ich so nicht ste­hen las­sen. Sicher, auch ich wün­sche mir den Rück­tritt des Son­nen­got­tes seit er Schil­del­mei­ser erst als Zug­pferd der Aus­glie­de­rung benutzt und ihn dann ent­las­sen hat. ABER: Ein prä­si­den­ten­sturz bringt uns nicht einen Punkt mehr im Kampf gegen den Abstieg ein. Im Gegen­teil, Unru­he, Schlech­te stim­mung und schuld­zu­wei­sun­gen kos­ten im schlimms­ten Fall wich­ti­ge Punk­te. Also lasst uns Ruhe bewah­ren, der Mann­schaft alle erdenk­li­che Unter­stüt­zung zukom­mem las­sen und wenn wir im Mai die Klas­se gehal­ten haben ( oder den Gang nach Sand­hau­sen antre­ten) kön­nen wir den Prä­si mit Pau­ken und Trom­pe­ten vom Hof jagen!

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