Spät stand er fest, der Heimsieg des VfB gegen St. Pauli. Denn die Brustringträger taten sich erneut gegen eine tiefstehende Mannschaft unglaublich schwer.
Eigentlich kann man sich ja nicht beschweren. Der VfB hat zuletzt im am 4. Mai dieses Jahres ein Pflichtspiel verloren und ist mit sieben Punkten aus drei Spielen sowie einem Sieg in der ersten Pokalrunde in die neue Saison gestartet. Blöd nur, dass wir jetzt in der zweiten Bundesliga antreten und es nicht reicht, sich irgendwo im Tabellenmittelfeld einzunisten. Nein, der VfB ist jetzt, wie Trainer Tim Walter feststellt, in jedem Spiel der Favorit und muss dementsprechend zusehen, dass er den Großteil seiner Spiele gewinnt, wenn er wieder aufsteigen will. Rein vom Ergebnis her klappte das auch im Heimspiel gegen St. Pauli, wie schon am vergangenen Montag in Rostock. Was das 2:1 auf den ersten Blick nicht verrät: Die Brustringträger waren in der ersten Halbzeit quasi chancenlos und ließen sich defensiv von den Gästen mit einfachsten Mitteln düpieren.
Kontrolle und Sorglosigkeit
Ich hatte es schon nach dem Rostock-Spiel angesprochen: Die Statistiken zu Ballbesitz, Anzahl der Pässe und Passquote ähneln sich in den einzelnen Spielen wie ein Ei dem anderen: Über 60 Prozent, knapp 600, über 80 Prozent. Ein genauerer Blick in die Zahlen verrät, dass die meisten Pässe im Spiel gegen St. Pauli von der Abwehrkette gespielt wurden: 97 von Stenzel, 73 von Badstuber, 60 von Kempf und 53 von Sosa. Erneut hatte der VfB viel Kontrolle über das Spiel, jedoch vornehmlich in der eigenen Hälfte. Sobald die Brustringträger die Mittellinie in die von meist zehn bis elf Gegenspielern besetzte gegnerische Hälfte überquerten, wandelte sich die Kontrolle in Hilf- und Sorglosigkeit. Die Hilflosigkeit manifestierte sich in den fehlenden Torchancen des VfB, die Sorglosigkeit in den vielen Fehlpässen und den daraus resultierenden Konterangriffen der St. Paulianer, von denen einer schließlich sein Ziel fand. Es hätten durchaus mehr sein können.
Die gute Passquote in der Abwehr, ohne Druck, übertüncht also die im Mittelfeld, insbesondere von Didavi und Ascacíbar, die beide “nur” 80 Prozent der Zuspiele an den Mann brachten. Aber es waren nicht nur Fehlpässe im Spielaufbau, die den VfB beinahe schon in der ersten Halbzeit die Punkte gekostet hätten, sondern auch das erneut schlampige Abwehrspiel, das meist nur wenig damit zu tun hatte, dass die Mannschaft weit aufgerückt war. Auch das 0:1 hätte durch konsequenteres Verteidigen verhindert werden können. Es ist nicht das erste Mal in dieser Saison, dass sich die VfB-Abwehr unabhängig von ihrer systembedingten hohen Positionierung nicht als vollkommen sattelfest erweist.
Ein Quäntchen cleverer
Genauso erschreckend war die offensive Harmlosigkeit. Der Ball lief zwar meist — siehe Passquote — gefällig durch die Stuttgarter Reihen, bei den beiden Stürmern Mario Gomez und Hamadi Al-Ghaddioui kam er aber nur selten an. beide hatten nur etwa 0,2 Ballkontakte pro Minute und wurden folgerichtig nach 51, respektive 77 Minuten ausgewechselt. Tim Walters Startelfentscheidung machte sich also zumindest in der Offensive augenscheinlich nicht bezahlt. Warum der VfB dennoch alle drei Punkte im Neckarstadion behielt? Weil Walters Mannschaft in entscheidenden Situationen dann doch das Quäntchen cleverer ist als der Gegner und weil die Gäste aus Hamburg mit zunehmender Spieldauer nicht mehr in der Lage waren, den VfB mit aller Kraft vom eigenen Tor fernzuhalten. Wie schon gegen Rostock überraschten die Brustringträger den Gegner mit einer Ecke, als Kempf eine flache Hereingabe verwandelte. In fast letzter Sekunde packte dann Borna Sosa eine seiner mittlerweile bekannten Flanken an den Fünfmeterraum aus, mit der er schon Mario Gomez’ Tor gegen Hannover aufgelegt hatte. Diesmal war der zuletzt viel gescholtene Nicolas González der Abnehmer, der zum vielumjubelten Siegtreffer einschob.
Ende gut, alles gut also? Es ist wie eingangs erwähnt natürlich angesichts der bisherigen Bilanz eine Luxusdiskussion, aber Tim Walter und seine Mannschaft taten sich bereits zum zweiten Mal binnen einer Woche unglaublich schwer mit einer Mannschaft, deren einzige Beteiligung am Spiel darin bestand, den Mannschaftsbus vor dem eigenen Strafraum zu parken und gegen eine hoch stehende VfB-Mannschaft auf Konter zu warten. Dass wir den Mannschaftsbus letzten Endes knacken können, liegt aber wie eben ausgeführt weniger an der Überlegenheit und Dominanz des Walterschen Spielsystems, sondern an klug ausgeführten Standards und überragenden Einzelaktionen. Die Frage ist: Warum führen Ballbesitz und Passspiel nicht zum gewünschten Erfolg, so dass man sich mit Einzelaktionen behelfen muss? Ist die Mannschaft noch nicht in der Lage, Walters System zielführend umzusetzen, oder ist Walters System für solche Spiele — und von denen wird es in der zweiten Liga viele geben — nicht zielführend?
Viel Abwehrglück
Das lässt sich jetzt natürlich noch nicht abschließend beantworten, aber die erste Halbzeit gegen St. Pauli war dennoch ziemlich frustrierend und hob sich damit auch von der Bewertung der ersten beiden Saisonspiele negativ ab: es war nicht nur nicht erfolgreich, es war auch nicht schön anzuschauen. Ich gehe auch nicht d’accord mit Tim Walters Sicht auf das Spiel, auch wenn er sich damit vielleicht vor allem vor seine Mannschaft stellen will.
?️ “Es ist nicht leicht, gegen einen tiefstehenden Gegner anzuspielen. Aber meine Mannschaft ist beharrlich drangeblieben und hat sich Situationen kreiert. Das Team war bis zum Ende überzeugt, dieses Spiel noch zu gewinnen.”
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?️ Die Stimmen zu #VfBFCSP:https://t.co/SmT93Sj9wo— VfB Stuttgart (@VfB) August 17, 2019
Das Team war vor allem deshalb bis zum Ende von einem möglichen Sieg überzeugt, weil es vorher in vielen Situationen viel Abwehrglück und in zwei Einzelsituationen gute Ideen hatte. Vielleicht reicht das, um sich durch die zweite Liga zu wurschteln und am Ende wieder aufzusteigen. Vielleicht aber auch nicht, nämlich dann, wenn sich die Ergebnisse der Spielweise anpassen, wie der Hamburger SV in der vergangenen Zweitliga-Saison schmerzhaft erfahren musste.
Natürlich ist mir bewusst, dass wir nicht der erste Verein in den letzten Jahren sein werden, der die Liga im Sturm nimmt. Aber wie bereits angesprochen wird sich ein Großteil der anderen Vereine genauso verhalten wie Rostock und St. Pauli: Hinten reinstellen, auf die unvermeidlichen Fehler im Aufbauspiel des VfB warten und uns dann mit Kontern versuchen auszuhebeln. Hinzu kommt, dass außer den drei Aufsteigern und den zwei Mitabsteigern viele Mannschaften Tim Walters Spielweise schon aus Kiel kennen und diese teilweise bereits in der vergangenen Rückrunde entschlüsselten hatten, wie Holstein-Podcaster Pike in unserer Vorstellung Walters erklärte:
“Jetzt in der Rückrunde haben sich die Teams auf das System eingestellt und bespielen es oftmals sehr gut, ein Walter passt sein System niemals an. Dadurch spielen wir zwar oft weiterhin schön und dominant, verlieren aber eben trotzdem.”
Tim Walter und seine Mannschaft müssen also schnellstmöglich zusammenfinden, denn bereits am Freitag in Aue wird es für uns wieder ein Spiel gegen den Mannschaftsbus sein. Natürlich ist die Saison noch lang, dennoch sollten wir so früh wie möglich so wachsam wie möglich sein.
Endlich ein wichtiges Tor
Zwei Einzelkritiken zum Abschluss: Besonders freut mich der späte Siegtreffer für den Torschützen selber. Nico Gonzalez hatte beileibe kein leichtes erstes Jahr in Stuttgart. Das hat er sich teilweise selbst zuzuschreiben, weil er sich in manchen Situationen einfach ungeschickt verhält. Sei es im Relegationsspiel, bei den Panamerikaspielen oder am Samstag, als er sich den Ball mit dem Standbein wegschob und anschließend in ein Luftloch trat. Genauso ist es aber dem Umstand geschuldet, dass seine Stürmerkollegen ihn mangels eigener Leistung oft im Stich ließen und er somit in seiner ersten Auslandssaison schlicht und einfach verheizt wurde. Was bei den zahlreichen vergebenen Torchancen unterging: Gonzalez hatte häufig die besten Lauf- und Zweikampfwerte, ihm fehlte nur eben die Ruhe und Abgezocktheit vorm Tor. Natürlich wird er durch das 2:1 gegen St. Pauli nicht zum Torschützenkönig der 2. Liga. Aber er hat endlich das geschafft, was letzte Saison stets von ihm erwartet wurde, aber immer misslang: ein wichtiges Tor zu erzielen.
Auch in diesem Spiel muss ich zudem auf den Schiedsrichter zu sprechen kommen. Nicht, weil der durch seine Leistung das Spiel negativ beeinflusst hätte — obwohl sein Linienrichter mit seiner Fahne drei VfB-Angriffe zu Unrecht unterband. Nein, Guido Winkmann steht hier im Fokus, weil er eigentlich nie mehr ein VfB-Spiel leiten sollte und das erstaunlicherweise seit dem 4. November 2017, als er Dzenis Burnic gegen den HSV für nichts nach 13 Minuten (!) mit gelb-rot vom Platz schickte, auch nicht mehr getan hat. Ich weiß nicht, ob man als Verein einen Schiedsrichter wirklich ablehnen kann und wenn ja, ob diese Ablehnung zeitlich befristet ist. Ja, Markus Merk pfiff nach 2001 nie wieder ein Schalke-Spiel, auch wenn in Wirklichkeit Krassimir Balakov und Schalke-Legende Mathias Schober dafür verantwortlich waren, dass die Uschis vom Revier mal wieder in die Röhre schauten. Auf jeden Fall sollte entweder die DFL oder der VfB dafür sorgen, dass Winkmann nie mehr gemeinsam mit VfB-Spielern den Rasen betritt. Nicht nur, dass er ein schlechter Schiedsrichter ist. Nein, seine Fahrlässigkeit hätte Christian Gentner vor zwei Jahren das Leben kosten können, als er die Partie gegen Wolfsburg nach dem Zusammenprall Gentners mit Coen Casteels weiterlaufen ließ, obwohl die Regel, dass bei vermeintlichen Verletzungen das Spiel so lange weiter läuft, bis der Schiedsrichter es unterbricht, damals schon Bestand hatte. Dass er uns zuvor schon mehrfach verpfiff, ist da fast zweitrangig.