Eigentlich haben alle nur noch auf die Bestätigung gewartet, sie kam am Montag Mittag: Tim Walter wird zur neuen Saison Trainer des VfB Stuttgart. Wir haben bei seinem bisherigen Verein Holstein Kiel etwas umgehört.
Da ist er nun also: Tim Walter, der vierte VfB-Cheftrainer seit dem Wiederaufstieg vor zwei Jahen. Wieder einmal steht der VfB vor einem Scherbenhaufen von einer Saison, weiß nicht einma, in welcher Liga er im August antritt und hat wieder mal einen neuen Übungsleiter, mit einem neuen Konzept und neuen Ideen. Ist das jetzt endlich der endgültige Umbruch, die Wende zum Besseren? Wir wissen es nicht und können es auch nicht prophezeien. Aber wir können Euch einen Eindruck vom neuen VfB-Trainer vermitteln und unsere Einschätzung zu ihm mit Euch teilen.
Auch diesmal haben wir dafür natürlich die beste Quelle angezapft, die es gibt: Fans. Genauer gesagt: Fans seines bisherigen Vereins Holstein Kiel, namentlich Pike vom Holstein-Podcast 1912FM. Das ist aber natürlich noch nicht das ganze Bild. Wer wissen möchte, wie Tim Walter bei seiner vorherigen Station im Nachwuchs und bei der zweiten Mannschaft des FC Bayern gearbeitet hat, dem sei das hervorragende und sehr lesenswerte Interview der Kollegen vom Vertikalpass mit Bayern-Nachwuchs-Experte Martin Brinkmann ans Herz gelegt.
Ja, er kommt aus Baden
Zunächst zur Vita des neuen VfB-Trainers, die manchem VfB-Fan bereits die Brustringröte ins Gesicht getrieben hat. Gebürtig kommt Tim Laszlo Walter nämlich aus Bruchsal nördlich von Karlsruhe und in der U17-Mannschaft beim damals gerade aus der Drittklassigkeit aufgestiegenen Verein vor Ort begann 2013 auch seine Trainerkarriere. Nachdem er seine Mannschaft in der Folgesaison auch eine Alterstufe weiter oben trainierte, wechselte er nach zwei Jahren in den Nachwuchsbereich des FC Bayern München, trainierte wiederum zwei Jahre lang die B‑Jugend und ein Jahr lang die zweite Mannschaft in der Regionalliga Bayern, bevor er 2018 den Sprung in den Profibereich machte und in Kiel die Nachfolge von Markus Anfang antrat. Dort war Walter Kiel-Fan Pike zufolge der große Unbekannte. Man wusste nur, dass er bei den Fans des FC Bayern ein so gutes Standing hatte, dass diese via Spruchband Kritik daran übten, dass der Verein ihn gen Norden ziehen ließ.
Was direkt deutlich wurde: Walter brachte aus München klare Vorstellungen mit, wie seine Mannschaft auszusehen habe und konnte die gemeinsam mit dem neuen Geschäftsführer Sport, Fabian Wohlgemuth, auch umsetzen. Nach dem in der Relegation gegen Wolfsburg knapp verpassten Bundesliga-Aufstieg gab es in Kiel sowieso einen ziemlichen Umbruch: 15 Spieler verließen den Verein, 17 Spieler stießen zum Kader. Es sei darauf geachtet worden, dass die Spieler zu Walters System passten, so Pike. Benjamin Girth beispielsweise war zu Saisonbeginn, vor Walters Amtsantritt, aus Meppen verpflichtet worden und galt bei den Fans als Hoffnungsträger. Im Winter wurde er bis Sommer 2020 nach Osnabrück verliehen, wo er mit 9 Toren in 16 Spielen durchaus seinen Anteil am Zweitliga-Aufstieg des VfL hatte.
Pure Offensive
Schaut man sich jetzt, nach dem Saisonende der 2. Bundesliga, die Bilanz von Holstein Kiel an, so fällt auf, dass der Verein hinter den beiden Direktaufsteigern Köln und Paderborn mit 60 die drittmeisten Tore geschossen hat. Gleichzeitig stehen sie mit 51 Gegentoren im Vergleich zum Rest der Liga im Mittelfeld. Dass Tim Walter offensiven Fußball spielen lässt, ist längst kein Geheimnis mehr. Pike führt die für einen Tabellensechsten relativ vielen Gegentore nur teilweise auf individuelle Fehler der Mannschaft zurück:
“Das System von Walter verlangt den defensiven Spielern extrem viel ab, jeder muss sich im Spielaufbau einschalten, kein Spieler darf hinten bleiben. Bei Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte ist unser Torwart oft der letzte absichernde Mann…am Mittelpunkt! Das führt dazu, dass wenn Fehler passieren, diese auch bestraft werden.”
Fordernd sei Walter aber nicht nur gegenüber seinen Abwehrspielern, sondern auch dem Rest der Mannschaft. Es habe deswegen zwar nicht wie bei uns unter Hannes Wolf Klagen von Spielern gegeben, die sich überfordert gefühlt hätten, viele hätten aber zunächst Probleme gehabt, Walters Spielsystem zu verinnerlichen.
Aber wie genau sieht Walters offensiver Fußball eigentlich aus? In einem Interview lässt sich Walter wie folgt zitieren:
“Wir wollen immer aktiv sein, immer extrem ballorientiert agieren. Ich stehe für zielgerichteten Ballbesitz und hohes Pressing. Der Gegner soll sich uns anpassen.”
Exemplarisch stehen dafür in der gerade abgelaufenen Saison besonders zwei Spiele: Anfang November spielte Kiel auswärts beim offensivstarken späteren Aufsteiger aus Paderborn, das Spiel ging 4:4 aus und wurde vom Paderborner Taktikblog Paderball im Anschluss als Eine Studie in Wahnsinn beschrieben. Kiel lag zwischendurch 3:1 zurück, aber
“Kiel setzte seine Taktik nicht wegen des Spielverlaufs um, sondern trotz dessen. Kiel fing sich Konter um Konter, änderte aber nichts. Während Paderborn an der Grenze zum Wahnsinn tanzt, hat Kiel ihn verinnerlicht.”
Das andere Spiel ist ein 2:1‑Heimsieg gegen St. Pauli am 28. Spieltag, in dem Kiel nach einem Platzverweis gegen Innenverteidiger Thesker und dem anschließend verwandelten Foulelfmeter 0:1 hinten lag. Walter stellte jedoch eine Mannschaft nicht um, damit er die Viererkette wieder auffüllen konnte, sondern spielte mit Dreierkette weiter, Kiel drehte das Spiel kurz nach der Pause und gewann.
Mut und Vertrauen
Besonders plastisch ist Walters Art, Fußballspielen zu lassen in diesem Sportbuzzer-Artikel (normalerweise keine Adresse für Qualitätsjournalismus) beschrieben: Er verlangt von allen Spielern nicht nur aggressives Pressing, sondern auch enorme geistige Flexibilität und “Mut zum Risiko”. Im Training überfordere er seine Spieler absichtlich, damit sie im Spiel besser mit Drucksituationen umgehen können. Durch das extreme Aufrücken der Mannschaft inklusive des Torhüters ergeben sich natürlich im Offensivspiel neue Räume, gleichzeitig ist die Mannschaft hinten anfälliger — siehe das 4:4 gegen Paderborn. Im Interview mit Tobias Ahrens auf 11Freunde.de beschreibt Walter seine Herangehensweise so:
Mut ist einfach das Vertrauen in seine eigene Stärke. Ich vertraue meiner Mannschaft und deshalb ist es vernünftig, was wir machen.
Der oben angesprochene zielgerichtete Ballbesitz beschreibt den Verzicht auf lange Bälle im Aufbauspiel zugunsten von exzessivem Kurzpass-Spiel. Walter begründet das im gleichen Interview mit dem Wunsch nach Kontrolle. Kurze Pässe brächten mehr Kontrolle als ein Ball, der lange in der Luft ist. Hier noch ein eben auf Twitter gefundenes Beispiel aus dem Spiel gegen Heidenheim (Kiel spielt in weiß):
Mal ein kurzes (extremes) Videobeispiel, das schon viel von dem “Wahnsinn” zeigt. #24 ist übrigens einer der Innenverteidiger. pic.twitter.com/f7Y1b2PBUN
— Eduard Schmidt (@EduardVSchmidt) May 20, 2019
Warum also ist Kiel mit diesem magischen Offensivfußball nicht aufgestiegen? Ein Blick auf die Rückrundentabelle bestätigt die Einschätzung des Kiel-Podcasters: “Jetzt in der Rückrunde haben sich die Teams auf das System eingestellt und bespielen es oftmals sehr gut, ein Walter passt sein System niemals an. Dadurch spielen wir zwar oft weiterhin schön und dominant, verlieren aber eben trotzdem.” Ein weiteres Manko sei zudem die Chancenverwertung, wobei Holstein da laut transfermarkt.de ligaweit immerhin den zweiten Platz belegt. Auf jeden Fall kann sich Pike gut vorstellen, dass auch der VfB Gefahr laufen könnte, dass sich seine Gegner in der Rückrunde der kommenden Saison auf Walters Spielsystem eingestellt haben “wenn Walter es nicht lernt, sich etwas an Gegner anzupassen”.
Gibt’s Küsschen?
Weil ich weiß, was ihr jetzt denkt (“Ist Zorniger zurück?”), habe ich natürlich auch nachgefragt, wie Tim Walter so im persönlichen Umgang ist. Pike zufolge sei man in Kiel diesbezüglich zwiegespalten: Die eine Hälfte möge seine trockene Art, andere fänden ihn unhöflich und respektlos. Beispielhaft wird dabei häufig die Pressekonferenz nach dem Heimspiel gegen Union Berlin herangezogen, in der Walter zu Beginn betont, dass er stolz darauf sei, dass seine Mannschaft “Fußball, ich betone: Fußball” spielen wollte.
Pike mag seine Art auf jeden Fall: “Er zieht sein Ding durch und nimmt wenig Rücksicht auf die Reaktionen. Nach außen ist das Verhältnis zu den Spielern gut, er ist ein bisschen Kumpel, ein bisschen Vater und ein bisschen Chef.”
Also, ist Tim Walter der Wiedergänger des in Stuttgart aus diversen Gründen gescheiterten Alexander Zorniger? Es gibt auf jeden Fall Parallelen: Der Fokus aufs Offensivspiel, die Risikobereitschaft, aber scheinbar auch das, was man positiv Durchsetzungswille und negativ Sturheit nennt. Die Gretchenfrage wird sein, welche Rahmenbedingungen (Hallo Wolle!) Walter am 1. Juli in Bad Cannstatt vorfindet. Erklärtes Ziel von Thomas Hitzlsperger ist es ja, dass wir unser System nicht schon wieder am Trainer ausrichten, sondern einen Trainer holen, der zur Vereinsphilosophie passt. Folgt man dieser Logik, möchte der VfB in Zukunft für begeisternden, aber auch risikobehafteten Offensivfußball stehen. Wenn man also schon den passenden Trainer dafür hat, braucht man jetzt noch den passenden Kader, denn viele von Euch werden sich bestimmt beim Lesen gefragt haben, wie der oben beschriebene Fußball mit unserer Rumpeltruppe wohl umzusetzen sei.
Wer passt sich an?
Es erscheint offensichtlich, dass Thomas Hitzlsperger und Sven Mislintat den Kader nach und trotz der großen Shoppingtour im vergangenen Sommer erneut werden umbauen müssen, denn der aktuelle Kader bewies in der abgelaufenen Saison weder die oben beschriebene geistige Flexibilität, noch konnte man sehr häufig Mut und Vertrauen entdecken. Walter wird also auch hier den Kader nach seinen Vorstellungen umbauen können und teilweise ist das sicherlich auch gut so. Schließlich scheiterte der bereits angesprochene Alexander Zorniger nicht zuletzt auch an den arrivierten Spielern im Kader und auch Hannes Wolf, der zugegebenermaßen einen gar nicht so radikalen Ansatz verfolgte, weinte nach dessen Entlassung von den Führungsspielern kaum einer eine Träne nach. Der VfB wird sich also in gewissem Maße diesem Trainer unterordnen müssen.
Gleichzeitig muss Walter sich aber auch anpassen, wenn er hier (und woanders) langfristigen Erfolg im Herrenbereich haben will. Man kann die Kürze seiner Aufenthalte bei seinen bisherigen Vereinen sicherlich in zwei Richtungen interpretieren: Entweder war er nie in der Lage oder daran interessiert, langfristig etwas aufzubauen, oder er war an jeder Station so gut, dass sich ihm schnell neue Möglichkeiten offenbarten, die Karriereleiter empor zu klettern. Was mich unabhängig davon positiv stimmt, ist der Fokus auf junge Spieler und Talente, den der VfB laut Hitzlsperger mit Walter, immerhin Deutscher U17-Meister 2017, verfolgen möchte. Schließlich haben wir ja immerhin bereits ein paar Spieler im Kader, die in dieses Schema passen und auch ein Anastasios Donis wird sicherlich eine gewisse Freude an Walters Offensivfußball haben.
Gebranntes Kind…
Dennoch: Ich bin nach wie vor skeptisch.
Ein gutes Gefühl hatte ich vor dieser Saison leider auch…
— Lennart Sauerwald (@l_sauerwald) May 20, 2019
Natürlich kann Tim Walter der Glücksgriff sein, auf den wir jetzt schon fast ein Jahrzehnt lang warten. Derjenige, der hier nachhaltig Strukturen schafft, die dafür sorgen, dass wir nicht jedes Jahr um den Klassenerhalt bangen müssen und die sportlich Verantwortlichen an Silvester immer noch die gleichen sind wie am Neujahrstag. Aber: gebranntes Kind scheut das Feuer. Zu leicht habe ich mich vor der Saison begeistern lassen, diesen Fehler mache ich nicht noch einmal. Lasst uns Tim Walter eine Chance geben, auch wenn er aus Baden kommt und dem dortigen Provinzportal nach seinem Wechsel zu den Bayern sagte: “Der FC Bayern war, neben dem KSC, immer mein Verein.” Schließlich sind wir mit dem in Stuttgart geborenen und in Bad Cannstatt wohnhaften Tayfun Korkut nun auch nicht unbedingt besser gefahren.
Aber lasst uns wachsam sein und wachsam bleiben, wie sich die Dinge beim VfB entwickeln. Und lasst uns verdammt nochmal alles dafür tun, dass Tim Walter in der kommenden Saison eine Bundesliga-Mannschaft trainiert.
Foto im Titelbild: © Calcio Culinaria Kiel
Einen Trainer aus Baden mit KSC-Vergangenheit hatten wir schonmal, und ich denke jeder weiß wie die Geschichte ausgegangen ist.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Ich rede natürlich von Jogi Löw und den glorreichen Zeiten des magischen Dreiecks.