In einem verzweifelten Anrennen der VfB-Spieler gegen das Defensiv-Bollwerk in Sandhausen erzielte Mario Gomez drei Tore, die allesamt haarscharf als Abseits identifiziert wurden. Hier folgt die Erklärung, warum die Treffer doch hätten zählen müssen — die Entscheidung ob Abseits oder nicht stand dem VAR schlicht nicht zu.
Sehen wir jetzt einmal von dem schrecklichen Spiel ab, so traf der VfB doch insgesamt viermal ins Netz der Badener. Nun — drei der vier Treffer wurden aberkannt. Gehen wir mal davon aus, dass der Schiedsrichter zu Mario Gomez tatsächlich gesagt hat, dass es jeweils um circa 3 Zentimeter ging und nehmen diese Zahl als vorausgesetzt an. Im Bild vom Vertikalpass auf Twitter kann man sehen, dass es nicht viel mehr gewesen sein kann:
Glasklares Abseits. #SVSVfB pic.twitter.com/IH1QUDUGi3
— Vertikalpass (@vertikalpass) December 1, 2019
Die technischen Hintergründe
1) Sky sendet mit einer Bildwiederholrate von 50 Hertz. Pro Sekunde landen also 50 Bilder im Kölner Keller.
2) Eine Frequenz von 50 Hertz bedeutet im Umkehrschluss ein neues Bild alle 0.02 Sekunden.
3) Technisch gesehen ist das Abfilmen von einem Fußballfeld das Erstellen vieler Fotos (50 pro Sekunde). Ein analoges Bild (das mit der Kamera aufgenommen wird), wird mithilfe eines Kamerasensors in ein digitales umgewandelt. Dieses digitale Bild kann dann weiterverarbeitet werden.
4) Der Kölner Keller erfasst den “Frame”, also exakt das Bild, in dem der Pass abgegeben wird, und schaut genau bei diesem Bild, wo sich Angreifer und letzter Abwehrspieler befinden. Mithilfe einer Bildverarbeitungssoftware kann dann aus den verschiedenen Kamerawinkeln eine “kalibrierte Linie” errechnet werden, anhand derer auf Abseits entschieden wird.
So weit, so klar.
Das Problem bei der kalibrierten Abseitslinie
Nun gibt es aber ein ganz grundlegendes Problem: Spieler bewegen sich nicht nur in den Fünfzigstel-Sekunden in denen ein Bild aufgenommen wird, sondern auch dazwischen (surprise, surprise!). Und sie bewegen sich fließend (in der Elektrotechnik wird hier der Begriff “Aliasing” verwendet, also ein Verstoß des sogenannten Abtasttheorems). Es ist also unmöglich, mit Hilfe eines digitalen Bildes zu erkennen, ob ein Spieler zum Zeitpunkt der Ballabgabe tatsächlich (!) im Abseits ist.
Was wissen wir bisher? In der Zeit zwischen zwei Bildern befinden sich Ball, Passgeber und Stürmer im technischen “Nirgendwo”, sie werden nicht erfasst. Was sie in der Zeit von 0.0199999 Sekunden zwischen zwei Bildern machen, wird nirgends erfasst, auch nicht von der kalibrierten Abseitslinie. Jede Bewegung dazwischen kann unmöglich erfasst werden.
Für die Planung technischer Systeme wie der “kalibrierten Linie” ist es imminent, dass vom worst case ausgegangen wird. Wir müssten also davon ausgehen, dass der ungünstigste Zeitpunkt der Passabgabe der ist, an dem der Pass tatsächlich erfolgt.
Wie genau kann die Abseitslinie sein?
Ich kann anhand der Fernsehbilder die Geschwindigkeiten vom Fuß des Passgebers und Gomez’ jeweiliger Geschwindigkeit nicht berechnen und die Geschwindigkeiten sind leider auch nicht öffentlich, anders als zum Beispiel die Bewegungsdaten der NFL (National Football League, American Football). Wir sind hier also auf Schätzungen angewiesen, diese reichen für meinen Punkt aber völlig aus.Wie gesagt, wir müssten hier eigentlich von den “worst case” Bedingungen ausgehen, ich werde diese aber für den VAR positiv auslegen.
Die maximale Geschwindigkeit eines Bundesligaspielers in dieser Saison betrug laut bundesliga.com 35km/h in einem Sprint. Rechnen wir für Mario Gomez mal mit ca. 25km/h, also 7 Meter pro Sekunde, beziehungsweise 14cm pro Fünfzigstelsekunde. Gehen wir nun davon aus, dass die Position des Balls am Fuß exakt bestimmt werden kann — was unmöglich ist, weil auch der Fuß beim Durchschwingen den Ball nur an einem Punkt berührt und nicht eine ganze Fünfzigstelsekunde. Selbst jetzt schon besteht eine Ungenauigkeit, die unmöglich zu bestimmen ist, von 14 Zentimetern. VIERZEHN ZENTIMETER!
Bewegt sich der Abwehrspieler nun noch entgegen der Laufrichtung von Gomez, weil er beispielsweise eine Abseitsfalle aufbauen will, muss diese Distanz logischerweise noch dazu addiert werden; bei der halben Geschwindigkeit von Gomez wären wir also schon bei 21cm.
Erinnern wir uns ganz kurz daran, was Mario Gomez gesagt hat: Er sei 3 Zentimeter im Abseits gestanden.
Warum die Linie trotzdem auf Millimeter genau kalibriert wird
Warum aber kann die Linie dann auf ein paar Millimeter genau zwischen Gomez’ Arm und dem Verteidiger unterscheiden? Weil die Bundesliga sich auf “Pseudogenauigkeit” verlässt. Der passgebende Spieler wird nicht gezeigt und hier liegt der Ursprung des Problems: Der Moment, in dem der Spieler passt, ist der Moment, der die Unklarheit bringt. Denn ob der Pass 0.01 Sekunden früher oder später erfolgt, ist technisch nicht erfassbar, aber für das Abseits selbstverständlich entscheidend. 0.01 Sekunden früher wäre Gomez vielleicht nicht im Abseits gestanden. Das Standbild ist also — wenn man es genau nimmt — ein zufälliger Moment. Es ist aber NICHT zwingend der Moment der Passabgabe — dieser liegt nur irgendwo, vermutlich zwischen zwei Bildern. Und in dieser Zeit von 0.01999 Sekunden ist Gomez wer weiß wo herumgerannt.
Und schon erkennen wir das Problem der Abseitslinie des VAR. Eine Tatsache, die in der Premier League übrigens noch viel, viel mehr diskutiert wird, weil es hier aufgrund der höheren Geschwindigkeit des Spiels einfach deutlich öfter vorkommt, dass derart knappe Abseitsentscheidungen getroffen werden müssen.
Was also tun?
Ganz einfach: Diese pseudo-Wissenschaftlichkeit der “kalibrierten Linie”, die ja schon fast gottgleich angenommen wird, ist keine. Genau so sollte es auch von den Schiedsrichtern beurteilt werden. Entweder der VAR greift nur noch bei klaren Fehlentscheidungen zum Beispiel über 50 Zentimeter ein, wo technisch zu 100% klar ist, dass es auch Abseits ist. Oder wir lassen das mit dem VAR einfach ganz. Es muss aber auf jeden Fall eine klare Grenze gezogen werden, ab der die “kalibrierte Linie” den Linienrichter überstimmen darf.
Desch halt ein Rotz im Quadrat.
Bin eigentlich ein Freund des VAR, aber aber und aber.
Auch unser Elfer: Berechtigt ob der dämlichen Regel (anderes Thema). Aber dann sieht’s der Schiri nicht oder anders, und dann kommt die Korrektur zweieinhalb Minuten später.
Wenn die im Keller da Zweifel haben, dann müssen sie die doch sofort äußern können — selbst wenn dann der Schiri doch richtig lag, herrje!
Die Abseitsgeschichten — da bin ich im Grunde voll bei Dir, Max.
Hinzu kommt, ohne zu wissen, wie viele Perspektiven berücksichtigt werden:
Eine Kamera schaut quasi immer schräg drauf. Und weil die Spieler ja nicht flach am Boden liegen, hängen Schulter, Kopf, Knie, etc. auch irgendwo schräg in der Luft — nach vorne oder hinten, nach links oder rechts, nach oben oder unten.
Ergibt eine komplexe dreidimensionale AbSCHÄTZUNG — wohl auch, wenn man drei oder mehr Kameras zur Verfügung hat.
Nichtsdestotrotz:
Die beispielhaften 50 cm für den Eingriff des VAR gibt es ja eigentlich in Form von “klare Fehlentscheidung”. Dass das da so schwammig formuliert ist, macht kaum einen Unterschied, weil auch bei 50 cm hast Du wieder die Diskussion um 49,5 oder 50,0001 cm.
Demgemäß hätten die Abseitstore eins und drei aberkannt bleiben müssen, weil der assi Assi die Fahne gehoben hatte.
Der Fallrückzieher wiederum hätte dann aber wohl zählen müssen: definitiv keine klare Fehlentscheidung, Fahne unten.
Womöglich hat aber auch der Schiri um Überprüfung gebeten? Darf er wahrscheinlich, weiß ich aber nicht.
Bei einem Tor muss der Ball komplett mit dem ganzen Umfang die Linie
überschritten haben.Genauso wenn der Ball ins Aus geht.
Warum nicht auch bei
einem Körper der dann
vor dem Gegenspieler sind befindet und dann abseits ist.
Ich kann den generellen Ärger über den VAR schon nachvollziehen. Dass dieser Ärger aber seit der Einführung des VAR so viel Raum einnimmt, finde ich völlig übertrieben. Dass es seit dem VAR viel weniger Schwalben, viel weniger Tätlichkeiten und insbesondere viel weniger ungestrafte Tätlichkeiten gibt wird kaum erwähnt. Die Mär von der großen Flut neuer Fehlentscheidungen durch den VAR ist auch daneben, die Zahl der entscheidenden Fehlentscheidungen ist schlicht enorm gesunken. Und spätestens beim Thema Abseits bin ich ein großer Fan der technischen Möglichkeiten.
In bestimmt weit über 90% der Abseitsentscheidungen mit VAR dauert die Entscheidung keine 10 Sekunden, 20 werden schon als viel wahrgenommen. Dass eine Abseitsentscheidung so knapp ist wie offenbar bei Gomez (hab bisher keine Bilder gesehen), kommt bei 18 Spielen pro Spieltag in den zwei Ligen maximal einmal vor. Dass man in dem Bereich ist, der hier angesprochen wird, ist nochmal seltener. Hätte man keinen VAR wäre das ein ungerechter Vorteil für einen Stürmer wie Gomez, der immer an der Abseitslinie hängt. Denn drei knappe Situationen mit Torfolge abzuwinken traut sich ein Linienrichter eher weniger, eventuell noch weniger, wenn der Spieler einer von Bayern ist, oder vllt eben auch Gomez heißt und man entsprechende Schlagzeilen in der BILD vermuten muss. Die kalibrierte Linie hat so ein Gedächtnis nicht und entscheidet immer gleich, bei jedem Spieler. Aber zurück zu der Thematik hier.
Rein Mathematisch stimmen die Rechnungen ja auch. Nur wird hier und da doch zum Nachteil des VAR gerechnet. In den meisten Fällen ist es ja ein auf dem Boden stehender Fuß, der im Abseits steht und nicht der Kopf eines sprintenden Spielers. Dieser Fuß steht aber länger als die 1/50 Sekunde auf dem Boden. Die Situation, dass der Abwehrspieler in die andere Richtung läuft (Abseitsfalle) ist doch sehr sehr selten und wäre für den Linienrichter ohne VAR noch viel schwerer aufzulösen. Der Moment der Ballabgabe ist natürlich eine heikle Sache, dabei finde ich auch die Anzeigen im TV schwach, die diesen Moment nie betrachten. Allerdings wird hier eigentlich immer die Perspektive gewählt, in der der Ball noch deutlich am Fuß ist. Anders als hier beschrieben ist es aber natürlich so, dass der Ballkontakt nicht ein einzelner Punkt ist, sondern auch eine gewisse Zeit dauert. Sprich der Zeitpunkt, an dem der Ball den Fuß nicht mehr berührt (der ist ja entscheidend beim Abseits) liegt meist später, als der gewählte Frame, was in den allermeisten Fällen zum Vorteil für den Stürmer ist.
Ich stimme dem Autor zu, dass die Aussage falsch ist, dass dank der kalibrierten Linien eine immer eindeutige Aussage zu treffen ist. Dieses “immer” gilt eben nur in geschätzt 98% der Fälle. Mir reicht aber diese Quote völlig, ist sie ja deutlich besser als die geschätzten 70% richtigen Entscheidungen des Linienrichters in den Fällen, in denen nun der VAR hinzugenommen wird. Immerhin lasse ich ja auch meine Tochter impfen, auch wenn es eine kleine Chance gibt, dass sie durch die Impfung Lähmungen bekommt (oder was die Impfgegner da schwurbeln), oder schnalle mich im Auto an, auch wenn der Gurt auch schon mal die Todesursache war.
Und in meinen Augen gäbe es durchaus noch Potential, das ganze zu verbessern. Ich würde z.B. vorschlagen, man nimmt 3 Frames. Den Frame, in dem die Ballabgabe am deutlichsten zu identifizieren ist, den Frame davor, den Frame danach. Steht der Stürmer in allen drei Frames im Abseits, ist auf Abseits zu entscheiden. Rein biomechanisch fällt mir kaum ein Szenario ein, in dem ein Spieler in diesem drei Frames im Abseits ist, in der Zeit dazwischen aber nicht.
Ist auf einem Frame der Spieler nicht im Abseits, kann man nicht eindeutig sagen, wie es sich im genauen Moment der Ballabgabe verhält. Ich würde das dann generell als gleiche Höhe werten (Im Zweifel für den Angreifer). Alternativ könnte man aber auch sagen, dass dann die Entscheidung gilt, die der SA getroffen hat.
Eine weitere, für mich noch bessere Variante könnte man sich für die Zukunft überlegen (wenn dies dann technisch umsetzbar wäre). Die Abseitsregel wird geändert und es zählen nicht mehr das hinterste Körperteil, mit dem ein Tor erzielt werden kann, sondern eine einmal definierte Stelle am Körper, z.B. die Brust. Da wird dann ein Chip ins Trikot genäht und zusätzlich ein Chip im Ball installiert. Das System nimmt dann den Moment, in dem der Ball den letzten Impuls erfährt und vergleicht dann die Abstände der Chips in den Trikots der Spieler zur Grundlinie. Und zwar immer, so dass der Linienrichter gar nicht mehr aufs Abseits schauen muss sondern schlicht ein Signal bekommt vom System. Der Vorteil, der Linienrichter muss nicht gefühlt 80% seiner Aufmerksamkeit auf das Abseits lenken, sondern kann auf Fouls, Handspiele, etc. viel mehr achten.
Ich dachte immer, der technologische Fortschritt ist schon so weit (immerhin können Autos ganz alleine fahren etc.), aber schaut man sich die technischen Probleme mit den weniger komplexen Sachen an, scheint das noch etwas zu dauern.
Sehr gut ausgearbeiteter Beitrag, liebe Sophie