Stabilität und Dynamik

Fast wie selbst­ver­ständ­lich gewinnt der VfB in der aktu­el­len Pha­se auch bei Uni­on Ber­lin — zum ers­ten Mal über­haupt in der Bun­des­li­ga . und schlägt über­for­der­te Gast­ge­ber dabei mit den eige­nen Waf­fen.

Ja, was soll ich denn nach dem sechs­ten Sieg in Fol­ge, dem nächs­ten Spiel, das der VfB mit knap­per Füh­rung kon­trol­liert, nur um am Ende den Deckel drauf­zu­ma­chen, noch schrei­ben? Jetzt gewin­nen wir sogar an der Alten Förs­te­rei und ver­trei­ben damit auch die Geis­ter, die seit Mai 2019 bei jeder Fahrt nach Ber­lin-Köpe­nick in unse­ren Köp­fen her­um­geis­tern. Soll ich über die Tabel­le schrei­ben, die wir anfüh­ren wür­den, wenn Lever­ku­sen nicht genau­so gna­den­los wäre wir wir? In der ganz rechts in der Spal­te unfass­ba­re 21 Punk­te ste­hen, so vie­le wie wir in den letz­ten acht Bun­des­li­ga-Sai­son nur ein­mal nach der Hin­run­de hat­ten? Und wei­ter vor­ne mehr Sie­ge und Tore als wir je in den ers­ten acht Bun­des­li­ga-Spie­len hat­ten? Nein, Rekor­de run­ter­be­ten wird dem Gan­zen nicht mehr gerecht. Schau­en wir uns also mal in der hier sel­ten ver­wen­de­ten Lis­ten­form an, was den VfB der­zeit so unschlag­bar stark macht:

  • Ser­hou Gui­ras­sy — Auch wenn der VfB das Spiel auch ohne sei­nen ange­schla­ge­nen Tor­jä­ger kon­trol­lier­te und am Ende durch zwei Ein­wech­sel­spie­ler ent­schied: Ser­hou Gui­ras­sy gibt der Mann­schaft so viel mehr als nur sei­ne Kalt­schnäu­zig­keit vor dem Tor. Vor dem 1:0 setz­te er sel­ber Antho­ny Rou­ault ein, bevor er sich sei­nen Weg in den Straf­raum der Unio­ner bahn­te und die but­ter­wei­che Her­ein­ga­be des Neu­zu­gangs per Kopf ver­senk­te. Schon Sasa Kalajd­zic war mit sei­nen Abla­gen vor dem Straf­raum viel mehr als ein klas­si­scher Stoß­stür­mer, Gui­ras­sy arbei­tet noch viel tie­fer am Spiel­auf­bau mit, hat nicht nur das Auge für das rich­ti­ge Tor­eck, son­dern auch für den vor­letz­ten Pass. Und was man auch nicht unter­schät­zen darf: Sein 1:0 brach­te den VfB erneut in die kom­for­ta­ble Posi­ti­on, nicht einem Rück­stand hin­ter­her lau­fen zu müs­sen, son­dern das Spiel mit einer Füh­rung im Rücken zu kon­trol­lie­ren. Für Kon­trol­le am ande­ren Ende des Spiel­felds sorgt…
  • Alex­an­der Nübel — Ja, ich weiß, ein biss­chen offen­sicht­lich, erst­mal den Tor­jä­ger und dann den Rück­halt im Tor zu nen­nen, aber die Wich­tig­keit Nübels für die Hin­ter­mann­schaft lässt sich gar nicht hoch genug anset­zen. Schon vier Mal spiel­ten die Brust­ring­trä­ger in den ers­ten acht Spie­len zu Null. Dop­pelt so häu­fig wie ver­gan­ge­ne Sai­son und genau­so häu­fig wie in der kom­plet­ten vor­ver­gan­ge­nen Sai­son. Neben erneut zahl­rei­chen abge­fan­ge­nen Flan­ken bewies Nübel sei­ne Sta­bi­li­tät dies­mal gegen Kevin Beh­rens, dem er den Ball erst vom Fuß klatsch­te, bevor der das Spiel­ge­rät am Straf­raum­rand noch unter Kon­trol­le brach­te. Damit ver­leiht er auch sei­nen Vor­der­leu­ten, die in der Ver­gan­gen­heit fast wöchent­lich für ein Unkon­zen­triert­heit gut waren, mehr Sta­bi­li­tät. Der Mann­schaft pas­sie­ren kaum noch Leicht­sinns­feh­ler, die Kon­zen­tra­ti­on scheint gestie­gen und…
  • die men­ta­le Stär­ke — einer mei­ner Lieb­lings­be­grif­fe, der nicht als Men­ta­li­tät oder das Feh­len der sel­ben miss­ver­stan­den wer­den soll­te. Der VfB lässt sich weder von unglück­li­chen Eigen­to­ren, noch von Ver­let­zun­gen aus der Bahn wer­fen und hat auch das Selbst­ver­trau­en, knap­pe Füh­run­gen nicht nur zu ver­wal­ten, son­dern zu gestal­ten. Natür­lich befin­det sich die Mann­schaft aktu­ell in einem Lauf, aber sie hat in den ver­gan­ge­nen Wochen auch ver­schie­de­ne Klip­pen umschifft, die sie in der Ver­gan­gen­heit aus dem Gleich­ge­wicht gebracht hät­ten. Nicht zuletzt auch eine gewohnt kratz­bürs­ti­ge Uni­on-Mann­schaft, der es dafür aber an der spie­le­ri­schen Kon­se­quenz man­gel­te. Gleich­zei­tig gelingt den VfB-Spie­lern end­lich, ihr Poten­zi­al abzu­ru­fen. Vie­le Brust­ring­trä­ger spie­len gera­de ihre bes­te Sai­son im Brust­ring und rei­ßen auch Spie­ler mit, denen man sol­che Leis­tun­gen nicht mal per­spek­ti­visch zuge­traut hät­te. Bes­tes Bei­spiel ist Maxi Mit­tel­städt, bei dem sich vie­le Beob­ach­ter einig waren, dass er wenn über­haupt ein Back­up für den mitt­ler­wei­le abge­wan­der­ten Bor­na Sosa sein könn­te. Am Sams­tag zeig­te sich Mit­tel­städt wie­der defen­siv sta­bil und offen­siv dyna­misch und konn­te so auch bis zur Umstel­lung auf Drei­er­ket­te den zuletzt an Rücken­pro­ble­men labo­rie­ren­den Hiro­ki Ito vor­züg­lich ver­tre­ten. Die Mann­schaft ist sta­bil sie ist kon­trol­liert, aber sie zeigt auch…
  • Dyna­mik — Auch hier offen­bart sich, dass sie end­lich in der Lage ist, kol­lek­tiv ihr Poten­zi­al abzu­ru­fen. Die Dyna­mik beginnt schon in der aller­letz­ten Rei­he, wenn Alex Nübel den Ball abwirft, kaum dass er ihn aus der Luft gepflückt hat. Natür­lich kommt uns auch zugu­te, dass die Spie­le meist rela­tiv lan­ge offen sind und die Geg­ner nicht ver­su­chen, einen Rück­stand zu ver­wal­ten, son­dern ihrer­seits voll auf Sieg spie­len. So kon­ter­te Silas in alt­be­währ­ter Manier die Ber­li­ner fast im Allein­gang aus. Beim 3:0 von Deniz Undav stand der zwar allein auf wei­ter Flur, die Ent­ste­hung des Tores war aber ein Para­de­bei­spiel an Hand­lungs­schnel­lig­keit, die Asi­en­spie­le-Sie­ger Jeong auf dem rech­ten Flü­gel an den Ball brach­te. Aber auch davor zeig­te der VfB immer wie­der, dass der vie­le Ball­be­sitz kein Selbst­zweck war. Den beherrscht die Mann­schaft ja qua­si seit dem Amts­an­tritt von Tim Wal­ter. In der drit­ten, der Hoe­neß­schen Aus­bau­stu­fe, ist er aber noch effek­ti­ver, weil nicht prä­zi­ser und ziel­ge­rich­te­ter, wäh­rend die Brust­ring­trä­ger unter Pel­le­gri­no Mat­a­raz­zo zumin­dest in der ers­ten Bun­des­li­ga-Sai­son zwar auch einen vor­wärts­ge­rich­te­ten Ball­be­sitz prak­ti­zier­ten, aber aber wesent­lich feh­ler­an­fäl­li­ger waren. Natür­lich kommt auch aktu­ell nicht jeder Ball an und es geht auch mal ein Gegen­spie­ler durch. Aber die Mann­schaft weiß, was sie zu tun hat — eine Eigen­schaft, die in der Ver­gan­gen­heit eben Mann­schaf­ten wie Uni­on oder Frei­burg aus­zeich­ne­te, die in ihren Spie­len gegen uns eben nicht den Ein­druck erweck­ten, sie wüss­ten, was zu tun ist. Die Per­so­ni­fi­zie­rung die­ser Dyna­mik ist natür­lich Chris Füh­rich, der mit dem Ball am Fuß viel mehr viel bes­se­re Ent­schei­dun­gen trifft als frü­her. Die Mischung aus Kon­trol­le und Dyna­mik beherrscht nicht nur die Start­elf, son­dern auch…
  • Die zwei­te Rei­he — Gegen Uni­on lässt der ein­ge­wech­sel­te Undav den Pass von Mil­lot geschickt für den ein­ge­wech­sel­ten Silas durch, bevor der ein­ge­wech­sel­te Jeong den Tref­fer des ein­ge­wech­sel­ten Undav auf­legt. Natür­lich gibt es auch Posi­tio­nen wie bei­spiels­wei­se auf der Sechs, wo ein Aus­fall den VfB hart tref­fen wür­de. Aber der Kader ist in die­ser Sai­son leis­tungs­mä­ßig näher zusam­men­ge­rückt. Undav bei­spiels­wei­se steht ja nur des­halb “erst” bei drei Sai­son­tref­fern, weil der VfB auf 14-Tore-Mann Ser­hou Gui­ras­sy weder ver­zich­ten kann, noch will. Antho­ny Rou­ault und der bereits erwähn­te Maxi Mit­tel­städt zei­gen aktu­ell Leis­tun­gen, die einen nur noch sel­ten an die Namen Sosa und Mavro­pa­nos den­ken las­sen, ohne die vier Spie­ler in ihrer Gesamt­heit ver­glei­chen zu wol­len. Und dann gibt es ja noch einen gewis­sen Josha Vagno­man. Im offen­si­ven Mit­tel­feld tum­meln sich Spie­ler, die gegen­über der Stamm­be­set­zung nicht erheb­lich abfal­len, auch wenn bei­spiels­wei­se Lewe­ling oder Jeong noch nicht die Zah­len auf­wei­sen kön­nen wie Silas oder Füh­rich. Wir wis­sen nicht, wann die Wel­le bricht, aber auch bei einem mög­li­chen Aus­fall von Ser­hou Gui­ras­sy ist mir vor den nächs­ten Spie­len nicht Angst und Ban­ge.

Die Mann­schaft hat die anfäng­li­che Eupho­rie längst in ein Erfolgs­re­zept über­führt. Wie vor drei Jah­ren ist lang­sam der Punkt erreicht, an dem die Wahr­schein­lich­keit, dass die Sai­son in einer kom­plet­ten Kata­stro­phe endet, immer klei­ner wird. Die sport­li­che Füh­rung hält die Mann­schaft auf dem Boden, wenn das über­haupt nötig ist und über­lässt das Fei­ern und Träu­men und Rekor­de zäh­len den Fans. Eine gute Arbeits­tei­lung.

Titel­bild: © John MACDOUGALL / AFP

2 Gedanken zu „Stabilität und Dynamik“

  1. Ja, Lenn­art, da fal­len uns leid­ge­prüf­ten Dun­kel­ro­ten fast kei­ne Wor­te mehr ein. Dass wir uns so der­ma­ßen am Fan-See­len-Bal­sam-Topf bedie­nen dür­fen, ist unfass­bar. Ich hat­te die gan­ze Woche kein gutes Gefühl. Uni­on ist so ein Reiz­wort für mich. Die­se schein­hei­li­gen Guten wer­fe ich zu ger­ne in einen Topf mit Pau­li und den Breis­gau­ern. Sol­che Mann­schaf­ten kom­men in mei­ner Lieb­lings­ska­la direkt hin­ter dem RB-Dings und Kon­sor­ten. Und dann hau­en die Jungs die 0:3 weg 😍. Nach dem ers­ten Tor sag­te mein Schwie­ger­sohn: “Das wird so ein typi­scher 0:1 Sieg!” Wor­auf ich ihm ant­wor­te­te: “Awa, das wird ein kla­res 0:3.” Kei­ne Spur mehr von komi­schem Gefühl, ein­fach nur Stolz, Freu­de und volls­te Über­zeu­gung für unse­re MANNSCHAFT ! Wann hat­ten wir das zuletzt, eine ech­te Mann­schaft? Ich weiß es nim­mer…
    Von Her­zen hof­fe ich, dass die Wel­le nicht am Sams­tag bricht (Lieb­lings­ska­la und so 🙃) und schon gar nicht 3 Tage spä­ter. Aber ich bin zuver­sicht­lich und freue mich schon sehr auf die 2 Spie­le. Also so rich­tig auch auf die Spie­le und nicht nur auf unse­re VfB-Fami­lie. Auch das gab’s schon eine gan­ze Wei­le nicht mehr…

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    • Lie­be Mela­nie,

      Dan­ke für Dei­nen schö­nen Kom­men­tar. Ja, es passt ein­fach gera­de sport­lich alles und das bes­te Anzei­chen dafür ist viel­leicht wirk­lich, dass man sich auf das nächs­te Spiel freut und nicht nur auf das Drum­her­um.

      Vie­le Grü­ße, Lenn­art

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