Was viele seit Monaten befürchten, ist nun eingetreten: Der VfB und Sven Mislintat gehen getrennte Wege, weil man sich nicht auf einen neuen Vertrag einigen konnte. Die Nebengeräusche sind alarmierend, aber auch ohne diese steht der VfB mal wieder vor einem Neuanfang. Werden wir jetzt wieder zu einem stinknormalen Verein?
Wahrscheinlich kommt dieser Blogartikel zu früh und ist wenige Stunden, nachdem ihr ihn gelesen habt, bereits veraltet. So träge dieser Verein manchmal ist, so gibt es doch von Zeit zu Zeit Phasen, in der alles atemberaubend schnell geht und der ganze Laden so frei dreht, dass alles möglich ist. Sogar eine Rückkehr von Bruno Labbadia. Aber der Reihe nach.
Dass Sven Mislintat den Verein verlässt ist, unabhängig von den Umständen, erstmal extrem schade. Denn es schien lange alles zu passen. Zumindestens perspektivisch. Dem holprigen Wiederaufstieg folgte eine wunderbare Saison 2020/2021, in der Mislintats Transferpolitik und auch die Entscheidung, Matarazzo erst zu holen und dann zu verlängern, voll aufzugehen schien. Natürlich stotterte der Motor in den vergangenen 18 Monaten gewaltig. Nicht jeder Spieler entwickelte sich so, wie von Mislintat erwartet und von uns erhofft. Das aber liegt in der Natur der Sache und solange mehr funktioniert als schief geht und die grundsätzliche Richtung stimmt, ist das kein Grund zur Besorgnis. Wir reden hier schließlich über Menschen und nicht über Maschinen, die sich jederzeit so verhalten (sollten), wie sie programmiert sind. Aber die grundsätzliche Richtung stimmte.
Die Richtung stimmte — und jetzt?
Ich habe hier in den letzten Jahren so ziemlich jeden von Mislintat verpflichteten Spieler mithilfe von Fans und Experten ihrer ehemaligen Vereine unter die Lupe genommen und bei jedem von ihnen war mir im Anschluss klar, was man im Verein mit ihm vorhat. Sei es mannschaftstaktisch oder in der persönlichen Entwicklung. Fragt mich nicht nach Alex Esswein und Steven Zuber. Natürlich: Viele Transfers waren ein Versprechen auf die Zukunft, vielleicht auch ein wenig Glücksspiel, aber meist mit sehr niedrigem Einsatz. Natürlich muss man schauen, was aus den ingesamt neun Leihspielern wird, deren aktuellen sportlichen Stand ich Euch die Tage hier auf dem Blog vorstelle. Aber grundsätzlich ging es in die richtige Richtung und eine nachvollziehbare Erklärung für die bis dato völlig verkorkste Hinrunde konnte mir auch noch keiner liefern.
Vielleicht hätte man es ahnen müssen, als es dem VfB nicht gelang, für Pellegrino Matarazzo innerhalb einer Woche einen geeigneten Nachfolger zu finden. Ob Michael Wimmer geeignet ist, steht zur Debatte, die Abfolge der Statements zu diesem Thema offenbart aber, dass er am Ende vor allem der kleinste gemeinsame Nenner war, die jeder versuchte, so gut wie möglich zu verkaufen. Das Hin und Her auf der Trainerposition war neben der katastrophalen, nennen wir sie Berater-Pressekonferenz, und den immer wieder verschobenen Vertragsverhandlungen der Kardinalfehler in den vergangenen Wochen. Nun steht Alexander Wehrle, der uns im September noch zur Entspannung aufforderte, vor der Herausforderung, bis zum 12. Dezember nicht nur einen neuen Sportdirektor und möglicherweise einen neuen Sportvorstand zu finden und zu installieren, sondern womöglich auch einen neuen Trainer. Dass ein neuer Sportvorstand angesichts der durchschnittlichen sportlichen Bilanz von Michael Wimmer mit diesem weitermacht, halte ich für sehr unrealistisch.
Kommunikation und Vertrauen
Die Trennung von Mislintat und die vorangegangen letztlich gescheiterten Vertragsverhandlungen haben indes zwei Ebenen. Da ist zum Einen die kommunikative Ebene, auf der es nicht mal gelingt, eine einvernehmliche Formulierung zu finden. Stattdessen wird dem scheidenden Mitarbeiter noch indirekt vorgeworfen, mehr als das, was “marktgerecht” ist, gefordert zu haben. Was auch immer marktgerecht in diesem Fall bedeutet. Ich bilde mir ein, dass man den monetären Aspekt hier vernachlässigen kann, vielmehr ging es nach einhelliger Meinung um Kompetenzen und Absicherungen, die sich Mislintat dem Vernehmen nach in den Vertrag schreiben ließ, als wir eben jene Wundersaison spielten, während sich Vorstandsvorsitzender und Aufsichtsratsvorsitzender offene Briefe um die Ohren schlugen.
Wie die genau aussehen, weiß ich nicht, aber offensichtlich ging es beim Vertragsangebot von Alexander Wehrle wie auch bei den Spielerverpflichtungen um eins: Vertrauen. Das ist die zweite Ebene: Traut man Mislintat mit so hoher Sicherheit zu, dass sein Weg zum Erfolg führt, dass man ihm ähnliche Freiheiten lässt wie einem Zehner, den man absichtlich nicht in ein taktisches Korsett presst, weil er ungezügelt einen größeren Mehrwert für die Mannschaft bietet als wenn man ihn alle fünf Minuten auf seine Position zurückpfeift? Offensichtlich nicht. Hätte Sven Mislintat diese Freiheiten genutzt, um an der Außenlinie einen Übersteiger nach dem anderen hinzulegen? Wahrscheinlich nicht. Die strukturelle Schieflage, die der VfB seit 2019 hat, resultiert ja nicht notwendigerweise aus den Kompetenzen des Sportdirektors, sondern aus dessen Wahrnehmung im Umfeld. Das Problem ist nicht, dass Sven Mislintat sich selbst für unfehlbar hielte, sondern dass es da draußen zu viele Menschen gibt, die dieser Meinung sind und Wohl und Wehe des Vereins und neuerdings auch ihre Mitgliedschaft davon abhängig machen.
Wie normal ist gefährlich?
Ich hätte mir eine Verlängerung des Vertrags und einen Lösungsansatz für die derzeitige sportliche Schieflage, insbesondere die vielen Gegentore gewünscht. Ich war und bin überzeugt, dass der Weg der Richtige ist, der vor dreieinhalb Jahren begonnen wurde: Junge Spieler verpflichten, entwickeln und verkaufen um im nächsten Schritt in der Lage zu sein, diese zu halten und von ihren sportlichen Fähigkeiten zu profitieren. Mit einem Fußball, der die individuellen Fähigkeiten der Spieler bestmöglich zum Einsatz bringt und in dem man nicht Dennis Aogo und Holger Badstuber jede Woche quer übers Feld schieben muss. Offensiv, aggressiv, mit einem kalkulierbaren Risiko. Und mit einer Mannschaft, mit der man sich trotz aller individuellen Unzulänglichkeiten identifizieren kann.
Dieses Erbe zu bewahren ist jetzt die Aufgabe von Alexander Wehrle. Ich bete immer noch inständig, dass eine Rückkehr zum unansehnlichen und letztlich auch nur vorübergehend erfolgreichen Labbadia-Fußball nur eine Ente ist. Der VfB stand letztlich auch für unkonventionelle Personalien, nehmen man nur als Beispiel einmal Thomas Krücken, den anders als der immer wiederkehrende Marc Kienle beim VfB nur Insider kannten. Bruno Labbadia wäre die unkreativste weil naheliegendste Lösung der Trainerfrage, die aber alles infrage stellt, wofür der VfB die letzten Jahre stand. Klar, über allem steht schon aus finanziellen Gründen der Klassenerhalt. Aber was dann?
So oder so droht der VfB zu einem ganz stinknormalen Verein zu werden mit stinknormalen fragwürdigen Trainerentscheidungen und den “marktgerechten” Scharmützeln im Hintergrund. Vielleicht muss man das, um die Klasse zu halten, vielleicht hören wir dann endlich mal auf, über Augsburg, Freiburg oder Union Berlin die Nase zu rümpfen, denen der Klassenerhalt Jahr für Jahr mit weniger Ressourcen, aber vielleicht auch mit weniger langfristiger Perspektive wesentlich leichter gelingt als uns. Vielleicht müssen wir vermeintlich unattraktiven Fußball spielen, um uns wieder in der Liga zu etablieren. Vielleicht hat uns auch genau das die letzten zehn Jahre reingeritten. Denn letztlich entsteht die aktuelle Panik ja nicht notwendigerweise, weil wir einen neuen Sportdirektor bekommen. Sondern weil wir uns vor dem Rückfall in Zeiten fürchten, in dem wir stinknormale Entscheidungen wie die für Tayfun Korkut trafen und damit ein stinknormaler Verein mit einer erbarmungswürdigen Art, Fußball zu spielen waren.
Respect! Just a little bit.
Unabhängig davon müssen wir aber wieder dahin kommen, dass aus dem VfB ein respektabler Verein wird und er nicht der Klepperlesverein bleibt, der er derzeit ist. Ob Labbadia als Trainer, Freundeskreise und Facebook-Seiten im Hintergrund oder Pressemitteilungen, die sich nicht nur unnötige Seitenhiebe erlauben, sondern wie im Fall der Posse um die Tätigkeit von zwei Vereinsbeiräten sogar öffentlich widerlegt werden: Das ist alles nur die Fortführung der letzten knapp zwei Jahre mit intrigierenden Investorenvertretern, Vereinsbeiratsvorsitzenden mit dem bereits genannten öffentlichen Schlagabtausch zwischen Hitzlsperger und Vogt. Philipp Maisel brachte es im Podcast Podcannstatt neulich auf den Punkt: “Wenn die Klammer des sportlichen Erfolgs fehlt, quillt die Scheiße aus jeder Ecke hoch.” Der VfB steht aktuell in jeglicher Hinsicht mal wieder ziemlich blank da und hat das zu sehr großen Teilen selber zu verantworten.
Es macht keinen Sinn, jetzt schon den Abstieg auszurufen und diesen Vogt und Wehrle in die Schuhe zu schieben. Wenn wir eines in den letzten Jahren gelernt haben sollten, dann dass der VfB viel komplexer ist. Aber wir müssen, ich zitiere erneut Philipp, wachsam sein. Allerdings ohne dabei den Kopf zu verlieren. Es ist an der Zeit für Alex Wehrle zu liefern und zu zeigen, dass er als Vorstandsvorsitzender auch gestalten kann.
Zu guter Letzt: Danke für alles, Sven!
Zum Weiterlesen: Der Vertikalpass dankt dem Dude und zieht eine durchaus gemischte Bilanz.
Titelbild: © Christian Kaspar-Bartke/Getty Images