…ist kein Realist. Dieser Spruch zierte vor ziemlich genau 15 Jahren zum Heimspiel gegen Mainz am 32. Spieltag die Cannstatter Kurve. Zwei Wochen später hatte der VfB einen Punkt Rückstand auf Schalke in eine Meisterschaft mit zwei Punkten Vorsprung gewandelt. Mit dem 2:2 in München haben sich die Brustringträger erneut für ein mögliches Wunder in Stellung gebracht.
Natürlich ist die Situation nach dem 33. Spieltag dieser Spielzeit 2021/2022 eine ganz andere als im Jahr 2007. Die Mannschaft eilt nicht von Sieg zu Sieg, sondern konnte die letzten sechs Spiele nicht gewinnen. Und am Ende hält der VfB auch nicht die Schale in der Hand, sondern im besten Fall die Teilnahmeberechtigung für die Bundesliga-Saison 2022/2023. Und es gilt auch nicht, einen Punkt aufzuholen, sondern ganze drei und dabei muss man auch noch darauf hoffen, dass Borussia Dortmund gedanklich nicht schon in der Sommerpause weilt, wie damals, als der Club vom Technikmuseum über den Umweg Relegation leider doch noch die Klasse hielt. Der direkte Klassenerhalt des VfB wäre in dieser Saison also fast das größere Wunder.
Das erste Wunder
Und dennoch ist er möglich, wenn nicht nur der BVB mitspielt, sondern auch die Brustringträger am Samstag gegen Köln die gleiche Intensität auf den Platz bringen wie am Sonntagnachmittag in Fröttmaning. Denn dass der VfB aus diesem Spiel nicht als der klare Verlierer rausging, war eigentlich auch schon ein Wunder, wenn man die letzten Partien betrachtet. Immerhin war ja gegen Wolfsburg mal wieder ein Tor aus dem Spiel heraus gelungen. Allerdings zu spät, nachdem die Mannschaft sich zuvor über 80 Minuten lang vom so unerwartet anderen Aufbauspiel der Wolfsburger aus dem Konzept bringen ließen, dass ihnen partout nicht einfiel, wie man durch Gegenpressing zu einem früheren Torerfolg hätte kommen können. Aber selbst wenn man die üblichen bayrischen Motivationsprobleme rausrechnet, die immer auftreten, wenn es “nur” die Meisterschaft zu feiern gibt, ist dieses Unentschieden erstaunlich. Schließlich war es der erste Punktgewinn gegen die aktuell fünft bestplatzierten Mannschaften der Bundesliga. Gladbacher, Augsburger, Bielefelder, sie alle gewannen gegen die Bayern, der VfB spielte diese und letzte Saison immer gut bis schlecht mit und verlor am Ende.
Nicht so dieses Mal. Denn erfreulicherweise trug die traditionell motivierte Leistung gegen die Bayern Früchte. Sicherlich hat man gegen die Münchner vorne auch etwas mehr Platz, die Konteranfälligkeit hatte FCB-Experte Georg von Miasanrot ja schon in der Spielvorschau thematisiert. Aber der VfB konnte sich beim frühen Führungstreffer wieder auf seine Stärken besinnen: Omar Marmoush als kluger Vorbereiter, der erneut in dieser Partie die meisten Schuss- und Torbeteiligungen aufwies, obwohl er zur Pause angeschlagen runter musste. Und Tiago Tomás, der seine feine Schusstechnik für ein Traumtor nutzte. Der Treffer zum 2:2‑Ausgleich war dann wieder der Klassiker: Lange Flanke von Sosa auf den langen Pfosten, wo der lange Kalajdzic zum Ausgleich einköpfte. Hinzu kam viel Herzblut, gutes Umschaltspiel, ein überragender Florian Müller sowie endlich mal ein wenig dreckiges Zeitspiel und auch die nötige Portion Glück.
Mehr drin, aber auch viel weniger
Denn anders als manch Berliner und Bielefelder das vielleicht glaubt, probierten die Bayern durchaus, ihre zehnte Meisterfeier in Folge mit einem Heimsieg zu krönen. Allein sieben Mal schoss Robert Lewandowski aufs Tor, Understat zählt am Ende fast drei expected goals für die Münchner zusammen. Und auch sonst dominierten sie die Statistiken: 75 Prozent Ballbesitz und eine Passquote von knapp 90 Prozent, der VfB ließ pro Defensivaktion etwa 27 Zuspiele zu. Insofern war es fast folgerichtig, dass die Bayern die frühe Führung noch vor der Pause drehten, denn Fehlpässe — statistisch gesehen landete jeder dritte Pass eines VfB-Spielers beim Gegner — und zurückhaltendes Zweikampfverhalten um den Strafraum — im Schnitt war der VfB nur in einer von vier Pressingsituationen erfolgreich — sind schon gegen Berlin und Wolfsburg fahrlässig, gegen den alten und neuen Meister werden sie knallhart bestraft.
Genauso wie Chancenwucher. Denn so dominant die Bayern in diesem Spiel statistisch auch waren, der VfB hätte sie gut und gerne komplett hopps nehmen können. Erst vergab Marmoush eine Kontermöglichkeit, dann visierte Kalajdzic das falsche Eck und damit Neuers Handschuhe an und schließlich vergab der eingewechselte Förster eine vielversprechende Aktion. Es ist eben auch ein Problem aktuell, dass der VfB nur zwei Spieler im Kader hat, die wirklich Torgefahr ausstrahlen — eben die beiden Torschützen. Sowohl Förster als auch Marmoush sind eher klassische offensive Aufbauspieler, die den letzten oder vorletzten Pass spielen, denen vor dem Tor aber teilweise die Qualität fehlt. Es wäre also durchaus mehr drin gewesen in diesem Spiel — aber auch viel weniger.
Nichts erreicht, nur verhindert
So hieß es im Mai 2014 mit Grüßen an Bernd Wahler und Fredi Bobic in der Cannstatter Kurve. Damals konnte man sich noch nicht vorstellen, dass der VfB für den Rest des Jahrzehnts zwischen der ersten und der zweiten Liga pendeln würde. Unterm Strich haben wir mit diesem Unentschieden sehr wahrscheinlich den direkten Abstieg verhindert, erreicht ist allerdings durch dieses Unentschieden in der Tat noch nichts, das sieht auch der Vertikalpass so. Ein Rückfall in alte Ängstlichkeit und Behäbigkeit gegen Köln würde nicht nur die theoretischen Chancen auf den direkten Klassenerhalt zunichte machen, er wäre auch kein guter Vorbote für die Relegationsspiele gegen Bremen, Hamburg oder Darmstadt.
Was Dortmund macht, haben wir nicht in der Hand. Aber wenn wir Lewandowski stoppen können (mit ein bisschen Aluglück), dann können wir auch Modeste stoppen, wir hatten ja schließlich genug Anschauungsmaterial in dieser Saison. Wenn es am Ende trotz eines Heimsieges doch nicht reicht, dann ist es so, aber dann können wir den Schwung mit in die Relegation nehmen. Aber eins nach dem anderen: Nach Berlin und erst recht nach Wolfsburg hatte ich mich schon so gut wie mit der Relegation abgefunden. Aber jetzt bin ich heiß auf ein Wunder. Kann ein knapper Abstiegskampf nicht auch mal wieder zu unseren Gunsten ausgehen? Ich hoffe, Mannschaft und sportliche Leitung sind sich der Chance auf ein Wunder bewusst und gehen das nächste Spiel genauso an, wie das letzte. Auf geht’s!
Titelbild: © Alexander Hassenstein/Getty Images