Selbsttäuschung

Das ers­te von 17 Spie­len um den Klas­sen­er­halt stand an — und die VfB-Elf ver­sag­te gegen Mainz erneut. Erschre­ckend: Seit der Nie­der­la­ge gegen Schal­ke scheint sich nichts geän­dert zu haben.

Da war er, die­ser Moment. Irgend­wann am Frei­tag­abend oder Sams­tag­mor­gen hat­te ich das Gefühl, dass ein Besuch des Neckar­sta­di­ons nicht nur des­we­gen eine gute Idee sein wür­de, weil man sei­nen Ver­ein nun mal auch in der tau­sends­ten Kri­se nach Mög­lich­keit unter­stützt, son­dern auch, weil all das, was sich Mar­kus Wein­zierl und Micha­el Resch­ke in der Win­ter­pau­se aus­ge­dacht hat­ten, Früch­te tra­gen wür­de. Gon­za­lo Cas­tro wür­de die Defen­siv­stär­ke eines Andre­as Beck mit dem Offen­siv­geist eines Pablo Maf­feo kom­bi­nie­ren, nur ohne das ange­schla­ge­ne Knie, respek­ti­ve die man­geln­de Ein­stel­lung. Die Flü­gel­zan­ge aus Alex Ess­wein und Ste­ven Zuber wür­de Wein­zier­ls Idee von Power­fuß­ball sofort umset­zen und inbe­son­de­re Ess­wein wür­de die Zweif­ler Lügen stra­fen. Schließ­lich hat­te die Mann­schaft ja im spa­ni­schen La Man­ga eine gute Woche und zwei Test­spie­le Zeit, um aus der Hin­run­de zu ler­nen. Oder, wie es Dirk Preiß im Rück­blick auf das Heim­spiel gegen Mainz auf den Punkt brach­te:

„Jeder ein­zel­ne muss sich hin­ter­fra­gen“, for­der­te Micha­el Resch­ke, der Sport­vor­stand – dabei war man davon aus­ge­gan­gen, dass genau dies bereits in der Ana­ly­se der miss­ra­te­nen Hin­run­de gesche­hen war.

Dirk Preiß, Stutt­gar­ter Nach­rich­ten

Wie wir alle mitt­ler­wei­le wis­sen, hat­te ich mich getäuscht. Es soll­te nicht die letz­te Täu­schung sein, der ich am Sams­tag gewahr wur­de. Denn eigent­lich muss­te man nach den ers­ten zehn Minu­ten davon aus­ge­hen, dass Mann­schaft und Trai­ner die Win­ter­pau­se wirk­lich zum Hin­ter­fra­gen genutzt hat­ten. Bor­na Sosa schlug tat­säch­lich eine Flan­ke von der Grund­li­nie (!), die zwar beim Geg­ner lan­de­te, der zwei­te Ball wur­de jedoch rela­tiv prä­zi­se auf den frei­ste­hen­den Zuber gebracht, der ihn jedoch nicht im Tor unter­brin­gen konn­te. Über­haupt: Tor­schüs­se. Unglaub­li­che 29 brach­te der VfB aufs Tor der Gäs­te und auch sonst spra­chen die Zah­len eigent­lich für den VfB: Die Brust­ring­trä­ger hat­ten eine bes­se­re Pass­quo­te, sie gewan­nen mehr Zwei­kämp­fe und sie hat­ten mehr Ball­be­sitz. Eine unver­dien­te Nie­der­la­ge also? Nein, wie­der getäuscht.

Schöne Zahlen, kein Ergebnis

Denn all die schö­nen Zah­len brin­gen uns nichts, wenn wir den Geg­ner der­art zum Tore­schie­ßen ein­la­den. Der abge­fälsch­te Schuss zum 1:0 — geschenkt, auch wenn die Flan­ke, die Zie­l­er im hohen Bogen vor den Straf­raum abwehr­te, gar nicht erst hät­te durch­kom­men sol­len. Aber den Gegen­to­re 37 und 38 der lau­fen­den Sai­son gin­gen Abwehr­ak­tio­nen vor­aus, die man schlicht­weg nicht als bun­des­li­ga­taug­lich bezeich­nen kann. Erst kom­bi­nier­ten sich die Main­zer durch eine viel­köp­fi­ge VfB-Abwehr, der Abschluss von Mate­ta kam qua­si mit Ansa­ge. Und dann gelang es dem VfB bei einer Ecke nicht, einen frei­ste­hen­den Spie­ler an einem Schuss aus zehn Metern zu hin­dern. Wo auch immer die Haus­her­ren die 54 Pro­zent der Zwei­kämp­fe gewon­nen haben mögen — hin­ten war das ein paar Mal zu sel­ten der Fall. 

Aber, möch­te man ein­wen­den, schaut Euch doch mal die expec­ted goals an! 3,78 hat Under­stat errech­net, und auch Caley Gra­phics kommt auf einen nur wenig nied­ri­ge­ren Wert:

Der VfB hat­te also hoch­ka­rä­ti­ge Chan­cen, er hat­te nur zu viel Pech, um aus ihnen mehr als zwei Tore zu machen. Kann man so sehen, aber es wäre arg­lis­ti­ge Selbst­täu­schung, die­se Nie­der­la­ge allei­ne feh­len­dem Glück zuzu­schrei­ben. Denn abge­se­hen von die­sem ers­ten Schuss von Ste­ven Zuber war es sel­ten durch­dach­tes Offen­siv­spiel, wel­ches den VfB so nah vors geg­ne­ri­sche Tor brach­te. Zwei­mal muss­te Mainz einen direk­ten Frei­stoß klä­ren, mehr­mals ver­fehl­ten die Schüs­se des VfB das Tor kom­plett und als die Brust­ring­trä­ger dann nach 83 Minu­ten beim Spiel­stand von 0:3 end­lich mit dem Tore­schie­ßen anfin­gen, da schien es der Main­zer Abwehr schon längst zu blöd, die stüm­per­haf­ten und umständ­li­chen Angriffs­ver­su­che des VfB abzu­weh­ren. Anders kann ich mir den kol­lek­ti­ven Tief­schlaf beim Kopf­ball von Nico­las Gon­zá­lez und den Tor­wart­pat­zer beim Anschluss­tref­fer von Marc Oli­ver Kempf nicht erklä­ren. Sicher­lich hät­te der VfB rein rech­ne­risch noch aus­glei­chen kön­nen, wenn Donis’ Schuss nicht an den Pfos­ten gegan­gen wäre oder der Schieds­rich­ter uner­klär­li­cher­wei­se auf Hand­spiel ent­schie­den hät­te. Aber hat man wirk­lich einen Punkt ver­dient, nach­dem man sich bereits in den ers­ten 45 Minu­ten der Rück­run­de im eige­nen Sta­di­on das Spiel aus der Hand neh­men lässt? Nach­dem man aus der Hin­run­de spie­le­risch nichts gelernt hat?

Der unsichtbare Stürmer

Man schaue sich nur ein­mal die Offen­siv­be­mü­hun­gen des VfB anhand des drit­ten Bil­des (links unten) in fol­gen­dem Tweet an:

Mario Gomez war qua­si unsicht­bar. Was zum einen natür­lich dar­an liegt, dass die Zei­ten, in denen er mit dem Ball am Fuß durch die geg­ne­ri­schen Abwehr­rei­hen mar­schier­te, lan­ge vor­bei sind. Wenn Mario Gomez tref­fen soll, dann muss er die Bäl­le in den Straf­raum ser­viert bekom­men. Und das funk­tio­niert wei­ter­hin nicht mit Halb­feld­flan­ken, die man nur schlägt, weil man auch wei­ter­hin nicht in der Lage ist, sich auf den Flü­geln ver­nünf­tig durch­zu­set­zen. Da ist es egal, ob Cas­tro und Ess­wein auf rechts sowie Sosa, spä­ter Insua und Zuber auf links das Außen­bahn­pär­chen bil­den: Der VfB kriegt den Ball nicht so hin­ter die Abwehr gespielt, dass dar­aus Tore ent­ste­hen. Zumal die genann­ten Spie­ler auf ihren Posi­tio­nen nicht gera­de Glanz­leis­tun­gen brach­ten. Das geht schon damit los, dass Bor­na Sosa ernst­haft die fal­schen Schu­he anhat­te, etwas, wor­über man auf der Tri­bü­ne in der Ver­gan­gen­heit gescherzt hat­te, wenn ein VfB-Spie­ler mal wie­der in Slap­stick ver­fiel. Oder dass sich unser ande­rer Neu­zu­gang auf der Außen­bahn, Pablo Maf­feo, schein­bar durch man­geln­den Ein­satz sel­ber aus der Mann­schaft genom­men hat. Insua und Cas­tro spiel­ten ihren Part zwar soli­de, aber soli­de reicht halt in der der­zei­ti­gen Lage ein­fach nicht. Und ja: Wenn man 0:2 hin­ten liegt, kom­men die Fähig­kei­ten von Zuber und Ess­wein im Kon­ter­spiel ein­fach nicht mehr so zu tra­gen. Vor allem bei Ess­wein hat­te ich aber häu­fi­ger das Gefühl, dass er noch ein paar Spie­le braucht, um sich von der Regio­nal­li­ga Nord­ost wie­der auf die Bun­des­li­ga umzu­stel­len.

Die größ­te Selbst­täu­schung am Sams­tag waren aber nicht die Tor­schüs­se und Spiel­an­tei­le, nicht die expec­ted goals oder die Erwar­tung, dass plötz­lich magi­scher­wei­se alles zusam­men­passt, was noch vor drei Wochen nicht zusam­men­ge­passt hat. Es war das Ergeb­nis. Das 2:3 sug­ge­riert, der VfB habe im Abstiegs­kampf eine — Vor­sicht, Trig­ger­war­nung — bit­te­re Nie­der­la­ge erlit­ten, aber auf­op­fe­rungs­voll gekämpft und Men­ta­li­tät bewie­sen. Und hey, mit ein biß­chen hät­te, hät­te Fahr­rad­ket­te wäre viel­leicht sogar noch ein Punkt raus­ge­sprun­gen. Also alles im Soll? Nein!

Rechenspiele

Mario Gomez ver­such­te im Trai­nings­la­ger in einem Inter­view Opti­mis­mus zu ver­brei­ten, was grund­sätz­lich lobens­wert ist. Er sag­te:

“Ich habe Respekt vor jeder Mann­schaft in der Liga. Aber bis auf Bay­ern und Dort­mund kön­nen wir jedes Spiel gewin­nen. Das ist nach wie vor auch als Tabel­len­sech­zehn­ter mög­lich.” 

Die Ein­schät­zung, dass es gegen Bay­ern und Dort­mund  nicht zu drei Punk­ten rei­chen wird, ist nicht ganz unrea­lis­tisch. Ja, der VfB könn­te jedes Spiel außer die­sen bei­den gewin­nen. Das Pro­blem: Er tut es nicht. Gomez wei­ter: 

“Wir dür­fen nicht nur davon spre­chen und ver­lie­ren, son­dern wir müs­sen 35 Punk­te holen, um es zu schaf­fen”

35 Punk­te also nach 34 Spie­len. Das ist sport­lich schon ein ziem­li­ches Armuts­zeug­nis, aber hat immer­hin in den letz­ten Jah­ren wahr­schein­lich meis­tens zum Klas­sen­er­halt gereicht. Gut. Neh­men wir also die­ses Ziel von 35 Punk­ten, zie­hen davon die müh­sam zusam­men­ge­klaub­ten 14 Punk­te ab, dann lan­den wir bei 21 Punk­ten, die der VfB in den ver­blei­ben­den 16 Sai­son­spie­len noch holen muss, um sicher die Klas­se zu hal­ten. Nein, moment. Zie­hen wir von die­sen 16 Spie­len noch ein­mal min­des­tens zwei ab: Mün­chen aus­wärts und Dort­mund aus­wärts. Blei­ben 14 Spie­le, in denen der VfB 21 Punk­te holen soll­te. Macht 1,5 Punk­te pro Spiel. Sie­ben Sie­ge in 14 Spie­len, ein Sieg in jedem zwei­ten Spiel also. Und es ist ja nicht so, als sähe es der­zeit danach aus, als wäre der VfB spie­le­risch in der Lage, Mann­schaf­ten wie Mön­chen­glad­bach, Leip­zig, Hof­fen­heim oder Frank­furt zu bezwin­gen. Um es kurz zu machen: Die Luft ist jetzt schon extrem dünn für uns und Nie­der­la­gen gegen Mainz zu Hau­se die­nen nicht gera­de als Atem­spen­der.

So reicht es nicht

Aber, was solls. We’ll always have the Rück­run­de 2018, so Gomez:

“Das Gute ist: Die ver­gan­ge­ne Sai­son hat gezeigt, dass es nichts zu sagen hat, wenn man über drei, vier Mona­te in der Bun­des­li­ga Pro­ble­me hat.”

Ich möch­te mich hier kei­nes­wegs allein auf Mario Gomez ein­schie­ßen. Sein Ansin­nen, sei­nen Team­kol­le­gen etwas posi­ti­ve Ener­gie zu ver­mit­teln, ist lobens­wert. Das sehe ich jetzt ein, auch wenn ich es zuerst anders bewer­tet habe. Ich habe nur die Befürch­tung, dass die­se Ener­gie nicht ange­kom­men ist und man wei­ter­hin der Mei­nung ist, man kön­ne sich irgend­wie durch­wursch­teln. Ein­zig Timo Baum­gartl äußer­te sich nach dem Spiel wirk­lich kri­tisch zu den 90 Minu­ten, aber auch beim ihm klaff­ten Wel­ten zwi­schen der Fähig­keit zur Selbst­kri­tik und der Fähig­keit zum Tore­ver­hin­dern. Man wird das Gefühl nicht los, dass beim VfB alle den­ken, dass es schon irgend­wie alles gut wird, weil man zwei Flü­gel­stür­mer gelie­hen hat, enorm viel Geld für ein Talent aus­ge­ge­ben hat und Mar­kus Wein­zierl mal mehr als eine Hand­voll Ersatz­spie­ler im Trai­ning zur Ver­fü­gung hat. Aber so leid es mir tut: So reicht es nicht. Ich habe dem VfB bereits nach dem Schal­ke-Spiel attes­tiert, wie ein Abstei­ger auf­zu­tre­ten und an die­ser Ein­schät­zung hat sich nichts geän­dert. Unse­re ein­zi­ge Ret­tung könn­te am Ende sein, dass Han­no­ver und Nürn­berg genau­so mise­ra­bel sind, aber was machen wir, wenn die mal über­ra­schend ein Spiel gegen einen Gro­ßen gewin­nen?

Die letz­te Selbst­täu­schung, auf die ich ein­ge­hen möch­te, ist die über unse­re Abwehr­leis­tung. Ich hat­te ja echt gedacht, dass wir im Som­mer die sowie­so schon sehr gute Defen­si­ve wei­ter ver­stärkt hat­ten. Statt­des­sen, so scheint es, haben wir unse­re Abwehr­leis­tung — ich möch­te mich da nicht allein auf die letz­te Rei­he beschrän­ken — in der Rück­run­de der letz­ten Sai­son maß­los über­schätzt. Der VfB lässt sich wei­ter ohne Wider­stand schwin­de­lig spie­len, nach dem ers­ten Tor fällt nur wenig spä­ter das zwei­te und wenn man dann erfolg- und ideen­los ange­rannt ist, das drit­te. 38 Gegen­to­re in 18 Spie­len hat­ten wir zuletzt in unse­rer vor­letz­ten Bun­des­li­ga-Sai­son, von der wir alle wis­sen, womit sie ende­te. Also noch mal für alle zum Mit­schrei­ben: Die Rück­run­de 2018 war eine abso­lu­te Freak­show. Ein Aus­rei­ßer nach oben, der sich so schnell nicht wie­der­ho­len wird. Lei­der.

Weniger schwätzen

Dass es bei einem 0:3 zum Rück­run­den­auf­takt schwer ist, die Zuver­sicht zu behal­ten, zeig­ten auch die Reak­tio­nen im Sta­di­on. Ob man nun frü­her gehen muss, weiß ich nicht. Meins ist es nicht. Auch wer­den wir die Klas­se sicher­lich nicht des­we­gen hal­ten, weil Prä­si­dent Diet­rich den Auf­for­de­run­gen der Kur­ve Fol­ge leis­tet und sein Amt abgibt. Aber es ist sei­ne Selbst­über­schät­zung, sei­ne teil­wei­se mut­wil­li­ge Täu­schung der Mit­glie­der, die mit dafür ver­ant­wort­lich ist, in wel­cher Lage sich der VfB befin­det. Von daher sind die “Diet­rich raus”-Rufe mit Sicher­heit kein Lösungs­an­satz, aber ein nöti­ges Ven­til. Denn beim VfB wird mal wie­der mehr gschwätzt als gschafft. Auf allen Ebe­nen.

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