Spät, sehr spät verspielt der VfB in Bremen zwei Punkte gegen einen direkten Konkurrenten, den er eine Halbzeit lang komplett im Griff hat. Ein bekanntes Gefühl.
Tja, was machen wir nun mit dem Ausgleich in wirklich allerallerletzter Sekunde? Einerseits zeigt der VfB nach einer verschlafenen Anfangsphase und erneut einem frühen Gegentor einen spielerisch ansprechenden und reifen Auftritt und spielt — mit einer Ausnahme — auch die Nachspielzeit genauso souverän runter wie gegen Dresden und Leipzig in den Vorwochen. Andererseits hat Bremen nach den ersten 20 Minuten auch sein Pulver komplett verschossen und kommt, vom Ausgleichstreffer abgesehen, in der zweiten Halbzeit nur einmal vors Stuttgarter Tor, nämlich als Duksch über selbiges drüber schießt. So einfach werden es uns nicht viele Mannschaften machen in einer Liga, in der es keinen prädestinierten Absteiger wie letztes Jahrt Fürth gibt. Und diese Chancen müssen wir diese Spielzeit nutzen. Denn einerseits befindet sich der VfB einerseits in einer anderen Lage als vor einem Jahr: Kein olympisches Turnier, welches wichtigen Spielern die Vorbereitung raubt, bis jetzt keine Verletzungen, die Topstürmer für ein halbes Jahr außer Gefecht setzen, keine Corona-Welle, dazu Neuzugänge, die sich bislang gut einführen. Andererseits reicht es trotzdem nur für einen Punkt gegen einen limitierten Gegner, weil der Mannschaft die gleichen Fehler wie in der vergangenen Saison passieren. Ist sie nun aufgrund der günstigeren Rahmenbedingungen in der Lage, die in Bremen liegen gelassenen Punkte woanders zu holen oder ist das ein Irrglaube, den wir nach der letzten Spielzeit abgelegt haben sollten? Muss man sich Mitte August schon den Kopf zerbrechen über sowas?
Einfacher wird es selten
Ich meine ja, ohne dabei aber das Erreichen es Saisonziels — des Klassenerhalts — infrage zu stellen. Denn ehrlicherweise ist es egal, wann Du leichtfertig Punkte liegen lässt. Natürlich war die Dramatik nach der Nicht-Leistung in Berlin eine andere als am zweiten Spieltag, wo Du noch 32 Spiele vor Dir hast. Aber wenn Du schon in der Lage bist, spielerisch an die Vorvorsaison anzuknüpfen, ist es umso ärgerlicher, wenn Du Dich um den Lohn bringst. Wenn man sieht, wie Silas zwei Mal per Steilpass in Szene gesetzt wird und endlich, nach langen Monaten, wieder ins Tor trifft, wie Endo einfach mal den Hammer auspackt, wie die Mannschaft das Spiel wieder an sich reißt, dann muss man sich keine Sorgen um den Klassenerhalt machen. Aber Bremen, das sich nach zwanzig Minuten einfach in die eigene Hälfte zurückzog, war halt auch der vermeintlich harmloseste Gegner in den ersten fünf Spielen, in denen es nach dem Spiel gegen Leipzig und der Fahrt an die Weser jetzt gegen die Europapokalteilnehmer Freiburg und Köln und dann gegen den nächsten euphorisierten Aufsteiger aus Gelsenkirchen geht. So spielerisch ansehnlich das war, die Mannschaft braucht weiterhin Selbstbewusstsein durch Ergebnisse und nur zwei oder drei Punkte aus fünf Spielen wären auch psychisch eine gewisse Hypothek für die folgenden Spiele gegen Bayern, Frankfurt und Wolfsburg. Einsatz und Intensität hin oder her, die Mannschaft muss vor allem im Kopf noch stabiler werden.
Dabei ist sie durchaus spielfreudig. Immerhin musste sie bis zur 59. Minute dieses Spiels ohne die bewährte Kombination Sosa-Kalajdzic auskommen. Kein Problem, legt halt Kalajdzic für Ahamada (gegen Leipzig), Endo und Silas (in Bremen) auf. Das Umschaltspiel erinnert wieder an die Saison nach dem Aufstieg, lediglich die Pässe und Passwege im letzten Drittel passen noch nicht immer, weil der ein oder andere zu lang am Ball klebt. Hinzu kommt über weite Strecken die Stabilität. Waldemar Anton ist statistisch derzeit einer der besten Zweikämpfer der Bundesliga und Ahamada, der die meisten Kilometer aller Brustringträger abspulte und die beste Passquote aller Stuttgarter vorzuweisen hatte, unterstützte damit seinen Mitspieler Wataru Endo, dem außer dem Tor in diesem Spiel nicht viel gelang und nur 40 Prozent seiner Zweikämpfe gewann. Auch der Kader bietet nur wenig Anlass für Sorgen. Mit der Hereinnahme von Sosa rückte Silas neben Kalajdziv in die Sturmspitze und wurde da erst richtig torgefährlich. Wäre die Verletzung von Vagnoman gravierender, könnte man diese auf den Außenbahnen locker auffangen. Und Li Egloff scheint endlich richtig in der Bundesliga anzukommen und deutete schon an, was wir — endlich — noch von ihm erwarten können.
Dumm angestellt
So schön das ist, fehlt der Mannschaft mitunter die Cleverness. Ich will gar nicht noch mal von Antons Platzverweis in Dresden anfangen. Aber was Kalajdzic dazu bewog, nach der Halbzeit auf der Seitenlinie sitzend einem Ball nachzustochern, den nicht mal er mit seinen langen Beinen noch erreichen konnte, ist mir ebenso schleierhaft wie die Antwort auf die Frage, warum die Mannschaft sich nicht richtig auf den Gegner einstellt. Sie ließ sich in der Anfangsphase komplett den Schneid abkaufen, gewann kaum einen Zweikampf und lag völlig verdient zurück. Gegen eine Bremer Mannschaft, die ihr erstes Heimspiel nach dem Wiederaufstieg bestritt und zumindest zu Beginn mit der gleichen Intensität zu Werke ging, mit der der VfB am letzten Spieltag vergangenen Saison Köln überrannte. Das war absehbar und trotzdem bekamen die Brustringträger kein Bein auf den Boden. Von den Toren mal ganz zu schweigen. Beim 0:1 verlor Endo den Ball nach einer Serie an Einwürfen an der Mittellinie und der Mannschaft gelang es trotz des nicht übermäßig schnellen Gegenstoßes nicht, sich rechtzeitig zu sortieren. Stichwort Restverteidigung: Die Zuordnung in der Kette passte nicht, so dass sich Anton zwischen Stage und Füllkrug entscheiden musste und am Ende letzteren nicht mehr erreichte. Noch eklatanter war die fehlende Cleverness beim zweiten Gegentreffer. Obgleich der VfB den Ball nicht so konstant hinten rausschlug wie gegen Bochum in der Rückrunde, sondern auch mal versuchte, die Uhr über Ballbesitz runterlaufen zu lassen, resultierte die Einleitung des Treffers durch Burke trotzdem aus einem Einwurf nach einem Befreiungsschlag. Viel unerklärlicher ist aber, dass die Mannschaft, die sich komplett in der eigenen Hälfte befand, nicht in der Lage war, einen langen, hohen Ball wegzuverteidigen. Es wäre so oder so die letzte Szene in diesem Spiel gewesen. Mach irgendwas. Aber lass Bremen nicht an diesen langen Ball kommen und erst recht nicht an den zweiten. Erneut passte das Stellungsspiel nicht, so dass Ito mit dem Kopf versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war. Diese fehlende Cleverness ist es, was mich fuchsig macht. Weil es Themen sind, die wir aus der letzten Saison mitgenommen haben.
Gleichzeitig ist es natürlich utopisch zu denken, dass die Mannschaft durch den Klassenerhalt und eine gute Vorbereitung alleine solche Fehler abgestellt hat. Ich wünsche mir aber, dass wir in dieser Hinsicht eine Entwicklung sehen, wie wir sie beispielsweise im Spielerischen schon beobachten konnten. Die Voraussetzungen sind besser als letzte Saison: Die Mannschaft ist fit, der Kader ist breiter und variabler und deshalb auch spielerisch besser. Jetzt muss nur noch der Kopf nachziehen und die Mannschaft Chancen kompromisslos nutzen. Dann wird es auch eine entspannte Hinrunde.
Zum Weiterlesen: Der Vertikalpass hat sich zu früh gefreut.
Titelbild: © Martin Rose/Getty Images