Gelingt dem VfB im neunten Bundesliga-Spiel der Saison endlich der erste Sieg? Vor dem Heimspiel gegen Union haben wir uns mit FCU-Fan Sebastian unterhalten.
Rund um den Brustring: Hallo Sebastian, ich grüße den Tabellenführer! Klassische Fußballfrage: Was ist das für ein Gefühl: Vor drei Jahren aufgestiegen und jetzt plötzlich ganz oben zu stehen, wenn auch “nur” nach acht Spielen?
Sebastian: Hallo Lennart, den Gruß zurück in den Tabellenkeller würde ich dir gern ersparen. Leider ist die Situation augenblicklich so, aber die Saison ist ja noch lang. Die Gefühlslage für uns Unioner ist schwer zu greifen, denn einerseits ist es natürlich komplett absurd, was gerade passiert. Als relativ junger Bundesligist nach der ersten Saisonniederlage am 8. Spieltag trotzdem noch Tabellenführer zu sein, so etwas passiert normalerweise nicht — davon träumt man. Wenn überhaupt.
Andererseits: Dass das Gebilde aus Trainer, Manager, Mannschaft, Vereinsführung und Fans zu diesen Leistungen fähig ist, haben die vergangenen drei Jahre kontinuierlich gezeigt, und so ist man davon zumindest nicht mehr völlig überrascht. Ich persönlich bin aber durchaus beeindruckt, wie konstant sich der sportliche Erfolg einstellt.
Trotz allem freue ich mich über die 17 Punkte deutlich mehr, denn im Gegensatz zur Tabellenführung kann uns die niemand mehr nehmen.
Um etwas nüchterner drauf zu schauen: Eure letzte Saison war ja schon nicht ganz schlecht. Wie erklärst Du dir den aktuellen Höhenflug?
Ich sehe es tatsächlich nicht als Höhenflug, sondern als konsequente Weiterentwicklung des Weges, den Union seit dem Aufstieg bestritten hat. Denn die Erfolgsfaktoren sind nicht neu, sie greifen halt nur immer wieder: Oliver Ruhnerts brilliante Transferpolitik, die Fähigkeit der Mannschaft, neue Leute schnell zu integrieren, Urs Fischers System mit klarer Aufgabenverteilung auf dem Platz sowie der Zusammenhalt aller Akteure im Verein von den Fans über den Staff bis zur Vereinsführung.
Im Ergebnis gibt es dann Dinge, die saisonübergreifend auffallen, wie etwa die teilweise brutale Effizienz oder auch die höchste Laufleistung der Liga — egal wer auf dem Platz steht. Das ist schon beeindruckend und spricht für eine hervorragende Kollektivleistung und eine funktionierende Philosophie.
Der Vertrag mit Urs Fischer wurde vor Kurzem verlängert. Da wird es wahrscheinlich wenig Widerspruch unter Union-Fans geben. Was sagst Du zu seiner bisherigen Arbeit in Köpenick?
Kurz gesagt: Union erlebt unter Fischer und Manager Oliver Ruhnert die sportlich erfolgreichste Zeit seiner Vereinsgeschichte. Urs kann aber nicht nur die Erfolge mit Union verweisen (Aufstieg, souveräner Klassenerhalt, 2x Europa-Quali), sondern bringt auch etliche Qualitäten mit: eine ausgezeichnete Ausbildung und Erfolge in der Schweiz, ein sehr klares System und die Fähigkeit, dieses seinen Spielern so zu vermitteln, dass so ziemlich jeder Spieler, den Oli Ruhnert ihm transferiert, seinen Platz so ausfüllt, dass es die Mannschaft erfolgreich und den Spieler selbst besser macht. Schön zusammengefasst hat das Twitter-User @Dagobert95: “Wenn Union Berlin zwei Truthähne verpflichtet, macht einer davon zehn Saisontore.
So sensationell die Transfers von Ruhnert teilweise sind, ist es doch beachtlich, wie viele dieser Spieler das in ihnen gesehen Potenzial dann tatsächlich zur Entfaltung bringen, was in dieser Häufigkeit nicht selbstverständlich ist.
Was Fischer gemeinsam mit seinem Co-Trainer Markus Hoffmann und dem Team leistet, lässt sich kaum greifen, nur schwer beschreiben und kann nicht hoch genug gewürdigt werden. Eine derartige Symbiose habe ich seit Thomas Schaaf und Klaus Allofs in den frühen Nullerjahren bei Werder Bremen nicht mehr gesehen. Außerdem ist der Schweizer ein sehr angenehmer Charakter. Ein wundervolles Portrait von Urs Fischer gibt es übrigens von Jacob Sweetman beim @textilvergehen.
Fischer selbst hat die Verlängerung aber wie üblich kurz und treffend kommentiert: “Es passt einfach.”
Auf was für einen FC Union müssen wir uns am Sonntag einstellen? Wo siehst du aktuell Eure Stärken und Schwächen?
Ich weiß selbst gar nicht, auf was für einen FCU ich mich einstellen soll, zumindest personell. Die englischen Wochen und auch das Infektionsgeschehen würfeln vieles durcheinander. Ich gehe aber davon aus, dass das Spiel, ähnlich wie bei unserer letzten Begegnung (1:1 in Berlin), kein Spektakel werden wird. Ich erwarte die für uns typische taktische Disziplin, Einsatz, Laufleistung und das starke, schnelle Umschaltspiel nach Ballgewinnen.
Was Union perfekt beherrscht, ist aus diesen Situationen extrem viel zu machen. Allerdings fehlt oft die Kreativität, aus dem Ballbesitzspiel gefährliche Torchancen zu kreieren. Zu oft wird es dann mit Flanken in den Strafraum probiert — gegen kopfballstarke Abwehrreihen meist kein effektives Mittel.
In der ersten Saison nach dem Aufstieg waren Standards durch Kapitän Trimmel noch eine echte Waffe,wenn es aus dem Spiel heraus nicht lief. Mittlerweile bringen diese aber nur noch selten echte Gefahr. Hier fehlt es also an wirksamen Optionen, wenn Plan A mal nicht funktioniert.
Dafür, dass ihr Taiwo Awoniyi an Nottingham verkauft habt, habt ihr im Sommer für relativ schmales Geld — wenn man transfermarkt.de Glauben schenken darf — Jordan aus Bern, Jamie Leweling aus Fürth und Morten Thorsby aus Genua verpflichtet, dazu eine Reihe ablösefreier Spieler. Wie zufrieden bist Du mit Oliver Ruhnerts Transferbilanz?
Da sind ja noch Leute wie Janik Haberer, Diogo Leite oder Danilo Doekhi gar nicht genannt. Im Ernst — ich erwische mich gelegentlich dabei, mich ein wenig daran gewöhnt zu haben, in welcher Regelmäßigkeit Ruhnert alle verblüfft. Entweder durch prominente Namen, die niemand bei Union erwartet hätte — wie etwa Subotic, Gentner oder Kruse, oder aber durch Spieler, die sonst kaum jemand auf dem Zettel hatte, die aber ihre Rolle anschließend perfekt ausfüllen.
Die aktuelle Transferperiode bildet da keine Ausnahme. Dass Spieler wie Jordan oder Diogo Leite sich so schnell einfügen und toll funktionieren, hätte ich nicht erwartet, aber es überrascht auch kaum. Andererseits ist es nicht gelungen, den Kader auf die Wunschgröße zu reduzieren. Ich denke aber, angesichts der Dreifachbelastung und dem Erkrankungsrisiko in der nach wie vor präsenten Pandemie ist das kein Makel, solange die Stimmung im Kader nicht leidet.
Was mir auffällt, sind die perspektivischen Verpflichtungen. Sheraldo Becker etwa oder András Schäfer, aber auch zuvor Taiwo Awoniyi, bekamen die nötige Zeit, die sie brauchten, um sich richtig zu entwickeln. Dagegen stehen natürlich auch Transfers, die am Ende nicht so funktioniert haben, wie z. B. Keita Endo, Leon Dajaku, Pawel Wszolek, Rick van Drongelen oder “Euro-Uhu” Tymoteusz Puchacz, von denen die meisten aber wieder transferiert werden konnten und deren Transfers, mit Ausnahme vielleicht von Puchacz, ein sehr überschaubares finanzielles Risiko darstellten.
Unter dem Strich ist die Bilanz mehr als positiv. Ich denke, dass man eine derart erfolgreiche Transferpolitik, auch über mehrere Jahre, so in der Liga selten findet und ich bin gespannt, welche Neuverpflichtung dieses Jahres wir in der kommenden Saison explodieren sehen. Vielleicht Leweling.
Im Kader steht ja am Samstag auch Rani Khedira, während Timo Baumgartl wegen einer Corona-Infektion vermutlich aussetzen muss. Wie läuft es für Rani bei Euch und wie wurde Timo bei seinem Comeback vorletzte Woche empfangen? Würdest Du ihn gerne über das Leihende im kommenden Sommer hinaus in Berlin behalten?
Dass sich alle hier wünschen, Timo möglichst lange bei uns zu halten, dürfte kein Geheimnis sein. Als nach dem letzten Spieltag der vergangenen Saison vom Stadionbalkon verkündet wurde, dass Timos Leihe verlängert wird, war die Freude darüber bei allen fast so groß wie die gleichzeitige Feier des Einzuges in die Europa League. Dabei war der Deal zu dem Zeitpunkt noch nicht mal in trockenen Tüchern. Auch bei ihm passt es einfach, menschlich wie sportlich. Bei seinem Comeback konnte ich leider nicht live im Stadion dabei sein, aber das, was man mitbekommen hat, war schon sehr ergreifend und beeindruckend. Auch, weil er am Ende einfach wieder ein gutes Spiel gemacht hat.
Rani Khedira hat eine beachtliche Entwicklung genommen in den letzten Monaten. Ähnlich wie Gentner, der sich nach anfänglicher Skepsis nachhaltig in Unions erste Bundesliga-Stammelf spielte, füllt Rani die durch Grischa Prömels Abgang entstandene Lücke mit beeindruckender Konstanz und zählt im Moment zu den wenigen Spielern die absolut gesetzt sind. Das ist umso bemerkenswerter, als dass das zentrale Mittelfeld bei uns personell am besten besetzt und damit auch am meisten umkämpft ist.
Gestern Abend habt ihr in Malmö gespielt und dort euren ersten Sieg in der Europa League geholt (1:0). Glaubst Du, das Spiel hat Auswirkungen auf Eure Leistung am Sonntag? Nächste Woche steht schließlich schon das Rückspiel an.
Grundsätzlich denke ich erstmal nicht, dass das Spiel große Auswirkungen auf die Partie am Sonntag hat. Gerade was die Kaderbreite, Belastungssteuerung und Rotationsfähigkeit angeht, ist Union sehr gut aufgestellt. Allerdings muss man diese Begegnung von gestern erstmal verdauen, sowohl physisch als auch mental. Die Mannschaft war die komplette zweite Halbzeit lang in Unterzahl, hat aber damit ihr Konterspiel sogar besser aufziehen können als vor der Pause und war damit — mal wieder — erfolgreich. Wenn man etwas daraus ableiten kann, dann dass Union versuchen wird, sich nicht aus der Reserve locken zu lassen und im Falle einer eigenen Führung Kräfte für das Rückspiel zu sparen. Vielleicht wird Becker eine Pause bekommen; der hat sich gegen Malmö sehr verausgabt.
Der Sieg zu zehnt gestern war ungemein wichtig, auch für die Moral. Allerdings wurde die Partie von unangenehmen Begleiterscheinungen seitens der Fans überschattet, inklusive einer halbstündigen Unterbrechung wegen Raketen und Böllern auf dem Feld. Aber auch das wird aufgearbeitet werden und ich denke, bis Sonntagabend ist das verarbeitet. Es gibt ja dafür zwei Stunden mehr Zeit als gewöhnlich…
Wegen des Europapokalspiels und der Fernsehverträge ist der Anpfiff im Neckarstadion erst um 19.30 Uhr. Hast Du dafür Verständnis? Und erwartest Du, dass Union-Fans deshalb nicht so zahlreich anreisen werden, wie sie das vielleicht zu einer normalen Anstoßzeit tun würden?
Diese Anstoßzeiten sind zunächst einmal der Preis, den die Vereine und ihre Fans für die vielen deutschen Europapokalteilnehmer zahlen. Das mag sich für DAZN-Abonnenten lohnen, ist aber natürlich die maximale Katastrophe für Auswärtsfahrer.
Dass an diesem Spieltag mit Hertha-Freiburg und VfB-Union ausgerechnet zwei Spiele mit so einer großen Entfernung angesetzt sind, mag unglücklich sein. Dass dann aber Köln gegen Gladbach um 15:30 Uhr angesetzt wird, während Unions Fans die zehnfache Strecke zu absolvieren haben und um 19:30 antreten müssen, dafür fehlt mir jegliches Verständnis.
Ich gehe dennoch davon aus, dass etliche Unioner euren Gästeblock füllen und beschallen werden, aber diese Anstoßzeit macht es vielen schwierig bis unmöglich, diese Partie live im Stadion zu sehen.
Gerade nachdem etliche reisefreudige Unionerinnen und Unioner bei der Ticketvergabe für das Spiel in Malmö leer ausgegangen sind, wäre hier größeres Potenzial gewesen, welches — auch bedingt durch diese Anstoßzeit — nicht ausgeschöpft wird.
Dazu kommt allerdings, dass wir im Oktober mit 9 (!) Spielen einen sehr vollen Terminkalender haben und manche Fans schon wegen der Fülle der Spiele auch mal aussetzen werden (müssen). Eine 600km-Auswärtsfahrt am Sonntagabend ist dann schon aus logistischen Gründen eher eine Streichoption als andere Partien.
Zum Abschluss: Dein Tipp fürs Spiel?
Ich vermute eine ähnliche Partie wie beim letzten Aufeinandertreffen: ein zähes, intensives Geduldsspiel, welches in einem torarmen Unentschieden mündet. Am Ende steht es wieder 1:1, diesmal aber nicht durch eine Halbfeldflanke 😉
Titelbild: © VfB-Bilder.de