Alle drei Punkte entführte der VfB am Samstag aus dem Berliner Olympiastadion. Und das war alles andere als erwartbar.
Vier Spiele absolvieren die Brustringträger zwischen der Länderspielpause im Oktober und der im November: in Berlin, gegen Köln, auf Schalke und gegen Frankfurt. Abstiegskampferfahren, wie wir ja mittlerweile sind, rechnet man sich natürlich gegen den einen Gegner etwas mehr aus, gegen den anderen Gegner etwas weniger. Gegen Köln und Schalke, die am Sonntag immerhin ihren ersten Zähler in dieser Spielzeit holten, sollte etwas mehr drin sein als gegen die millionenschweren Berliner oder gegen die Frankfurter, die uns seit dem gemeinsamen Kampf um den Klassenerhalt 2016 mittlerweile um Jahre enteilt scheinen. Auch unabhängig von der Größe der Geldscheine schien mir vor allem Hertha BSC ein ähnlich schwerer Gegner wie Leverkusen, gegen die der VfB vor der Länderspielpause einen völlig verdienten Punkt holte.
Nun, ich sollte recht behalten — und doch überrascht werden. Denn obwohl die Hertha immer wieder gute Ansätze zeigte, immerhin doppelt so viel Torschüsse abgab wie der VfB und wesentlich mehr Ballbesitz hatte, war es zunächst die Effektivität und dann die Abgezockheit, die den ersten weiß-roten Sieg im Olympiastadion seit Christian Gentners Siegtreffer im September 2013 sicherstellten. Zum ersten Mal in dieser Spielzeit ging der VfB in Führung, anstatt sich den Matchplan durch ein einfaches frühes Gegentor selber zu vermasseln und gab dem Betrachter danach nur selten das Gefühl, das Spiel würde den aus den letzten Jahren leidlich bekannten Ausgang nehmen. Am ehesten vielleicht noch, als Atakan Karazor und Gregor Kobel die Berliner Stürmer im eigenen Fünf-Meter-Raum zum Toreschießen einluden.
Reifende Debütanten
An Karazor kann man vielleicht auch exemplarisch die Mannschaftsleistung in diesem Spiel festmachen. Schließlich feierte der genauso sein Bundesligadebüt als zentraler Innenverteidiger wie Tanguy Coulibaly als linker Wingback. Zunächst wackelte er zwar so bedenklich, wie das seine verletzten Kollegen in den letzten Spielen teilweise taten, fing sich aber zusehends und bewies, warum man ihn letzte Saison in die Innenverteidigung zurückgezogen hatte und dass man auch ohne Waldemar Anton und den wahrscheinlich länger verletzten Konstantinos Mavropanos eine Alternative zu Marcin Kaminski hat. Kurz: Er reifte in seinem ersten Bundesliga-Spiel. Auch der eben angesprochene Coulibaly hat einen Reifungsprozess durchlaufen, der natürlich noch nicht abgeschlossen ist. Wirkte er im Testspiel gegen Straßburg vor der Saison noch ziemlich überfordert, so belebte er wie schon vor zwei Wochen erneut die Außenbahn mit seiner Kreativität, Dynamik und der Fähigkeit, sich irgendwie durchzuwurschteln. Und hätte seine überraschend gute und erfrischende Leistung beinahe mit zwei Assists gekrönt:
Zehn Strafrunden für Saša Kalajdžić dafür so ne butterweiche Flanke verschwendet zu haben. https://t.co/m8rBetHMt3
— VfBFilmRoom (@VfBFilmRoom) October 17, 2020
Wäre da nicht Sasa Kalajdzic gewesen, der es wie gegen Leverkusen als Sturmspitze nicht leicht hatte und sich trotzdem zwei Kopfballchancen erarbeitete, denen Understat zusammen einen xG-Wert von 0,87 errechnete — fast ein Tor also. Die erzielten dafür andere. Spieler die schon etwas älter, reifer, mancher würde sagen überreif sind, ohne Kalajdzic aus seinen vergebenen Chancen einen Vorwurf machen zu wollen. Kurz nachdem dieser den Ball gegen den Pfosten geköpft hatte, nutzte Marc Oliver Kempf die Schwäche der Gastgeber bei Standards aus und verwandelte Daniel Didavis Freistoßflanke — ebenfalls per Kopf — zum 1:0. Eine Flanke, die ich Didavi nach den letzten Spielen gar nicht mehr zugetraut hatte, die sich allerdings leider auch positiv von seinem restlichen Spiel abhob — die Passquote von knapp unter 50 Prozent spricht da Bände.
Ein gereifter Kapitän
Der andere Routinier, der seine ganze Reife auf den Platz brachte, war natürlich Gonzalo Castro. Und das nicht nur wegen seines sehenwerten Treffers zum 2:0, sondern auch weil er sich immer wieder ins Offensivgeschehen einbrachte und sich sein Tor quasi selber erarbeitete, als er den Ball zuerst seinem Gegenspieler abknöpfte und ihn dann nacheinander an Sasa Kalajdzic und Mateo Klimowicz abtropfen ließ, bevor er ihn aus knapp 20 Metern im Tor versenkte. Es scheint, ich habe das glaube ich schon mal irgendwo geschrieben, als würde ihn die Kapitänsbinde in seinem vermutlich letzten Vertragsjahr endlich zu der Leistung beflügeln, die ich schon seit seiner Verpflichtung 2018 von ihm erwartet habe.
Mag sein, dass ich die Hertha im Vorhinein aufgrund der Rahmenbedingungen als stärker eingeschätzt habe, als sie wirklich ist — schließlich war das jetzt die dritte Niederlage in Folge. Vielleicht hatte die Mannschaft auch einfach nur keinen guten Tag. Am Ende der Saison fragt danach aber keiner mehr. Wichtig war und ist: Der VfB agiert auch im vierten Saisonspiel gegen eine etablierte Bundesliga-Mannschaft auf Augenhöhe und ist in der Lage, eine frühe Führung nicht nur über die Zeit zu bringen, sondern sie auch auszubauen. Erneut gab Trainer Pellegrino Matarazzo die Richtung vor, als er bereits nach etwas mehr als einer Stunde und mit nur einem Tor Vorsprung mit dem wiedergenesenen Gonzalez für Coulibaly und Klimowicz für Didavi zwei Offensivspieler ziemlich positionsgetreu ersetzte und kurz vor Ende nicht nur Al Ghaddioui brachte, sondern auch Li Egloff zu seinem Bundesligadebüt — einem von vielen in der Mannschaft zuletzt — verhalf. Wie schon bei seinem Profidebüt in der zweiten Liga nutzte der seinen Auftritt gleich für eine Empfehlung in eigener Sache.
Drei Punkte zum Genießen
Es war, um die Überschrift dieses Spielberichts aufzugreifen, eine reife Leistung der Brustringträger, aus diesem Spiel drei und nicht nur den von mir erhofften einen Punkt mitzunehmen. Weil junge Spiele ihre Reife erlangten und ältere diese unter Beweis stellten. Ich hoffe, dass es der Mannschaft gelingt, diese Leistung auch in den nächsten Spielen auf den Platz zu bringen, wenn es gegen Mannschaften geht, die vielleicht in der Tabelle weit hinter dem VfB stehen, wegen der natürlich trotzdem vorhandenen Qualität im Kader deswegen aber umso gefährlicher sind. Auch wenn wir die für den Klassenerhalt nötigen Punkte so schnell wie möglich vollkriegen sollten, ist es doch gut zu wissen, dass wir aus diesen vier Spielen zwischen den Pausen schon mal drei sicher haben.
Und um nichts anderes geht es natürlich weiterhin. Der gute Saisonstart verschafft uns ein angenehmes Polster für die Spiele, in denen die richtig unangenehmen Gegner kommen: Hoffenheim, Dortmund, München, Wolfsburg direkt vor Weihnachten und Leipzig einen Tag nach Neujahr. Wie schon in der Vergangenheit geschrieben, ist die erste Saisonstart-Nervosität aber jetzt erstmal weg. Viel mehr noch: Es macht Spaß, dieser Mannschaft beim Spielen zuzuschauen, eben weil sie sich nicht mit einer 1:0‑Führung in Berlin zufrieden gibt. Genießen wir die aktuelle Phase mit dem besten Saisonstart seit 2008, solange wir es können. Die schweren Zeiten kommen auch in dieser Saison noch schnell genug.
Titelbild: © Maja Hitij/Getty Images