Denn sowas hat man lange nicht gesehen.
Der VfB beschert uns Fans gerade die am längsten andauernde Phase der Glückseligkeit seit Menschengedenken. Ein besserer Saisonstart als in den Jahren 1983, 1991 und 2006, als man am Ende Deutscher Meister wurde, es ist sogar der beste Saisonstart in 56 Jahren Bundesligazugehörigkeit. Spieler entwickeln sich beim VfB von Sorgenkindern zu Nationalspielern, ein VfB-Stürmer stellt einen Bundesliga-Rekord auf. Immer wieder die Frage: Was geht hier eigentlich ab? Die Spieler werde geherzt und geliebt wie einst Hansi Müller, die Förster-Brüder, das magische Dreieck oder die Jungen Wilden 1.0 und 2.0. Und man kann immer wieder nur betonen: Die Mannschaft tritt derart stabil auf, dass ein kompletter Einbruch derzeit wesentlich unwahrscheinlicher erscheint als ein Saisonende im oberen Tabellendrittel. Also: Was geht hier eigentlich ab?
Geht’s noch?
Wie immer, wenn der VfB ausnehmend gut oder ausnehmend schlecht spielt, was seit knapp zehn Jahren der Fall ist, erregt er auch die Aufmerksamkeit überregionaler Beobachter. Nicht, dass diejenigen, die sich nicht nur die Glanzstunden in der Zusammenfassung anschauen, sondern auch die Tiefschläge ausführlich behandeln — so wie wir — weniger überrascht wären über die Entwicklung. Ich meine: Ich stand vor nicht mal fünf Monaten noch im Hamburger Volksparkstadion und bekam wegen einer frühen HSV-Führung im Relegations-Rückspiel Schnappatmung. Aber wenn es darum geht, Erklärungsversuche zu finden, dann merkt man eben, dass nur mal eben draufschauen auf den VfB nicht hilft. Ich meine hier nicht mal Oskar Beck, der auch mal ein Buch über den den Verein geschrieben hat und sich in der Welt zuletzt nicht entblödete, antirassistische Banner aus den in dieser Hinsicht dunklen frühen 90er Jahren zu zitieren und sie in den eigene krude Weltsicht zu übernehmen.
Oskar Beck in der Welt, meine Damen und Herren. Komplett hängengeblieben. Keine weiteren Fragen. #VfB pic.twitter.com/MzlDDDF24A
— Lennart Sauerwald (@l_sauerwald) October 9, 2023
Beck disqualifiziert sich hier nicht zum ersten Mal, aber nachhaltig für den sportlichen Diskurs über den Erfolg des VfB.
Nein, ich meine jene, die es eigentlich besser wissen müssten, weil sie beide den VfB schon trainiert haben. Vielleicht ist auch gerade das der Trugschluss, dem Armin Veh und sein früherer Spieler und späterer Nachfolger Markus Babbel unterliegen: Das eine VfB-Vergangenheit einen dazu berechtigt und befähigt, sich qualifiziert zum VfB zu äußern. Während kluge Menschen wie Timo Hildebrand sich angenehm zurückhalten, poltern diese beiden drauf los und schießen weit übers Ziel hinaus — auch und vielleicht weil der Ort, an dem sie das tun, die Fernsehsendung Doppelpass, solch undifferenzierten und unqualifizierten Stuss geradezu fördert, weil er ins Sendungskonzept passt.
Worum geht es? Veh sagte am 1. Oktober, also dem Tag nach dem Köln-Spiel über Ex-Sportdirektor Sven Mislintat: “Er hat sich zwar verbal immer gut verkauft, aber einen guten Job hat er für mich überhaupt nicht gemacht.“ In dieser Sendung war mit Fabian Wohlgemuth dankenswerterweise auch jemand vom Fach da, der Veh direkt widersprach. Eine Woche später war der VfB dem anhaltenden Erfolg sei dank wieder Thema in der Weißbierrunde, diesmal mit Markus Babbel, der zu Protokoll gab: “Auch die Trennung von Sven Mislintat war wichtig — den Sonnengott gehen zu lassen und mit Fabian Wohlgemuth jemanden zu holen, der das Business kennt”. Rumms. Wer sich nur ein bisschen eingehender mit dem VfB beschäftigt, weiß natürlich, dass es komplizierter ist, aber auch ein Blick auf die Aufstellungen der letzten Spiele genügt, um zu erkennen, dass beim VfB gerade etwas passiert, was in Stuttgart sehr selten vorkommt.
Das geht ab
Da sind Spieler wie Enzo Millot, der vor allem in den Schlussphasen der letzten beiden Spielzeiten bereits sein Potenzial andeutete, in besonderem Maße im vergangenen Frühjahr. Oder Waldemar Anton, der nicht nur in seinem zweiten Anlauf als Mannschaftskapitän sondern auch als Innenverteidiger Fortschritte gemacht hat. Hiroki Ito, vom japanischen Zweitliga- zum Nationalspieler gewachsen, der aktuell beide linke Positionen in der Viererkette bekleiden kann. Aber auch ein Alexander Nübel, der beim VfB das Vertrauen und die klaren Verhältnisse mit überragenden Leistungen zurückzahlt. Ein Angelo Stiller, der die größten Fußstapfen seit den Abgänge von Mario Gomez und Krassimir Balakov zu füllen hatte und direkt im ersten Spiel einfach losmarschierte, als wäre es sein 100. Spiel im Brustring. Ein Deniz Undav, der dem Offensivspiel eine ganz neue Note verleiht. Natürlich wissen wir nicht, wie sich diese drei weiterentwickeln, oder ob die drei erstgenannten ihr Niveau halten können.
Aber derzeit zeigen sie zusammen mit allen anderen, dass man beim VfB die richtigen Puzzleteile für einen erfolgreichen Saisonstart gefunden hat. Natürlich ist die aktuelle Saison bislang erfolgreicher als die letzten vier Jahre. Diesen Wandel alleine einer Person zuzuschreiben ist aber unterkomplex. Man darf schließlich auch den Trainer nicht vergessen, der ebenfalls seine Rolle spielt. Er hat es geschafft, die Mannschaft zu fokussieren und sie widerstandsfähiger zu machen, hat also die Kaderplanungen der letzten Jahre mit seiner Herangehensweise veredelt.
Es passt gerade alles
Das ist die Erklärung für den derzeitigen Höhenflug, der dazu führt, dass wir uns täglich die Tabelle und alle paar Tage die Zusammenfassung des letzten Spiels anschauen wollen, dass das Stadion kocht und der VfB auf einer Euphoriewelle schwimmt wie vielleicht zuletzt im Mai 2007: Es passt derzeit alles zusammen. Die Entwicklung der Spieler über die letzten Jahre, der Einfluss der Neuverpflichtungen, der Trainer, der Torwart, der Torjäger, der Mittelfelddirigent und alle davor, dahinter und dazwischen.
Was nicht heißt, dass es in der Mercedesstraße keine Probleme gäbe: Noch immer sucht man einen Sportvorstand, der einen NLZ-Direktor suchen muss, noch immer wirbt man für eine problematische Branche, die gerade durch den Erfolg noch mehr positive Aufmerksamkeit bekommt. Es geht hier nicht darum, alles rosarot zu malen. Aber man kann gleichzeitig trotzdem die sportlichen Erfolge feiern, und zwar ohne sich in die alten Grabenkämpfe zu vertiefen, wer jetzt wen verpflichtet und damit wie viel zum Erfolg beigetragen hat. Das wird nämlich weder der Mannschaft, noch der aktuellen Situation gerecht.
Zum Weiterlesen: Der VfBlog nähert sich der Zwischenbilanz etwas analytischer, kommt aber zu einem ähnlichen Schluss. Stuttgart.International nimmt kurz auf den eigenen Blogname Bezug und stellt dann fest: “Im Gesamtblick auf den Klub und im Wissen um die turbulente jüngere Vergangenheit darf man sich von der überraschend guten Platzierung nach sieben Spielen nicht blenden lassen – nicht bei der Festlegung der sportlichen Ziele, und erst recht nicht bei der künftigen personellen Führungsstruktur.” Der Vertikalpass beobachtet Fabian Wohlgemuth beim Kochen, wie die jungen Leute in den Sozialen Medien wohl sagen.
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