Entgegen anderslautender Ankündigungen, ist der VfB im Winter-Transferfenster doch noch mal aktiv geworden und hat den Offensivspieler Tiago Tomás für eineinhalb Jahre von Sporting Lissabon ausgeliehen. Wir haben uns in Portugal über ihn erkundigt.
Erstens kommt es meist anders und zweitens…na ihr wisst schon. Eigentlich wollte Sven Mislintat im Winter ja niemanden mehr verpflichten. Zum einen, so das Credo, weil die von Verletzungen zurückkehrenden Spieler bereits Verstärkung genug seien und zum anderen, so der Zwang, weil die Mittel des VfB begrenzt sind — oder zumindest das Budget, dass sich die AG für den Profikader leistet. Durch den Abgang von Marc Oliver Kempf nach Berlin, der zumindest eine verhältnismäßig kleine Ablöse und eine verhältnismäßig große Gehaltsersparnis bedeutete sowie in geringerem Maße den Transfer von Hamadi Al Ghaddioui nach Zypern und die Leihe von Philipp Klement nach Paderborn scheint nicht nur etwas mehr Platz im Kader zu sein, sondern auch etwas mehr Geld in die Kasse. Das hat Sven Mislintat am heutigen Sonntag in die eineinhalbjährige Leihe von Tiago Barreiros de Melo Tomás investiert, einen 19jährigen Offensivspieler des amtierenden portugiesischen Meisters Sporting Lissabon. Ob es sinnvoll ist, den Abgang eines Defensivspielers zur direkten Konkurrenz mit der Verpflichtung eines Offensivspielers zu kompensieren, dazu später mehr. Zunächst aber mal zu Tomás. Über ihn habe ich mit SCP-Fan Jorge (@omeiocampo) gesprochen, der unter O Meio Campo über Sporting bloggt.
Tomás wurde am 16. Juni 2002 in Lissabon geboren, wird also im Sommer 20 Jahre alt. Die Leihe zum VfB ist auch die erste Station außerhalb seiner Geburtsstadt oder ihrer näheren Umgebung, denn 2014 kam er mit 12 Jahren von Estoril Praia — übrigens der Ex-Verein des früheren VfB-Spielers Ailton — in den Nachwuchsbereich von Sporting. Zu Beginn der später von Corona unterbrochenen Saison 2019/2020 stieg er mit 17 in die U23 Sportings auf und absolvierte in der Reserveliga Liga Revelação sechs Spiele, in denen er drei Tore erzielte und teilweise auch mit Nuno Mendes auf dem Platz stand, den Sporting aktuell an Paris St. Germain verliehen hat. Jorge schränkt jedoch direkt ein, Tomás sei “kein Superstar”, also auch kein Überflieger-Talent und er sehe ihn auch nicht auf dem gleichen Level wie Mendes. Nichtstdestotrotz debütierten beide im Sommer 2020, als auch die portugiesische Liga den Betrieb wieder aufnahm, in der ersten Mannschaft Sportings. Jorge erklärt, dass Sportings Präsident kurz vor der Pause mit Ruben Amorim für 10 Millionen Euro Ablöse (!) bereits den vierten Trainer der Saison verpflichtet hatte, ausgerechnet vom Konkurrenten aus Braga, mit dem sich der Club um den aus seiner Sicht enttäuschenden vierten Platz balgte. In der Corona-Pause habe Amorim genug Zeit gehabt, in den Nachwuchsmannschaften nach passenden Spielern für die erste Mannschaft zu suchen und berief anschließend neben Tomás und Mendes auch Gonçalo Inácio, Eduardo Quaresma, Matheus Nunes und Joelson Fernandes. Tomás unterschrieb im Sommer 2020 einen Vertrag bis 2025 mit einer angeblichen Ausstiegsklausel von 60 Millionen Euro — die Kaufoption für den VfB soll bei rund 15 Millionen liegen.
Meisterschaft mit Sporting
In der Folgesaison stand Tomás dann fest im Profikader, machte gegen Linz und Aberdeen in der Europa League-Quali seine ersten beiden internationalen Spiele — und traf in beiden — außerdem wurde er im Ligapokal und im portugiesischen Vereinspokal eingesetzt und absolvierte insgesamt 30 Spiele in der Liga NOS, in denen er drei Mal traf und zwei Vorlagen lieferte — und am Ende mit Sporting die erste Meisterschaft seit 2002 feierte. Er sei nie als Stammspieler angesehen worden, erklärt Jorge, auch wenn er immerhin 16 Mal in der Startelf stand und 14 Mal eingewechselt wurde und überhaupt nur vier Spiele verpasste: eines wegen einer Gelbsperre, die anderen drei wegen einer Verletzung. Trotzdem sei er, wie viele seiner aus dem Nachwuchs übernommenen Mitspieler gleichen Jahrgangs ein wichtiger Faktor der Meistermannschaft gewesen. Vergangenen Sommer hatte ihn angeblich auch Arsenal auf dem Schirm. In der laufenden Saison, Sporting liegt nach 19 Spielen mit sechs Punkten Rückstand auf Porto auf Platz 2, absolvierte er 13 Spiele, stand jedoch in keinem davon in der Startelf sondern wurde nur eingewechselt. Das Höchste der Gefühle waren 32 Minuten Spielzeit beim 1:0‑Heimsieg gegen Marítimo. Immerhin kam er auch auf fünf Teileinsätze in der Champions League.
Dass Spieler einer Meistermannschaft in der Folgesaison nicht unbedingt die gleiche Rolle spielen wie vorher, weil sich der Verein verstärkt hat, ist nichts Ungewöhnliches. Ist das also der Grund für die wenigen Einsatzzeiten und die Leihe nach Stuttgart? Jorge erläutert, dass Tomás grundsätzlich nicht optimal in Sportings Spielsystem gepasst habe. Amorim setze normalerweise auf ein 3–4‑3 mit und eine Fünferkette gegen den Ball, offensiv spiele er mit einem Stoßstürmer und zwei Flügelspielern, von denen sich einer eher ins Mittelfeld zurückfallen lasse, während der andere für die Läufe hinter dem Mittelstürmer zuständig sei. In der zentralen Rolle sei es Tomás nicht gut gelungen, sich zwischen die Linien und damit in das Kombinationsspiel seiner Mitspieler fallen zu lassen — wie es ja Sasa Kalajdzic häufig tut — so dass Amorim im vergangenen Winter Paulinho aus Braga verpflichtete, der genau diese Rolle ausfüllen sollte. Bis dahin wurde Tomás trotzdem bisweilen auf dieser Position eingesetzt, auch weil es nicht viele Alternativen gab. Meistens wurde er, wenn nicht als Mittelstürmer, auf der rechten Seite eingesetzt, der rechte Fuß ist auch sein stärkerer. Aber auch auf anderen Positionen in der Offensive habe er duch Pote und Nuno Santos viel Konkurrenz.
“Er muss spielen. Häufig.”
Aus diesem Grund verleihe Sporting ihn auch für einen solch langen Zeitraum: “Er muss sein Spiel weiterentwickeln”, so Jorge “und dafür muss er spielen. Häufig. Er muss Verantwortung übernehmen dürfen.” Zumal Sporting als amtierender Meister in dieser Saison auf viele tiefstehende Gegner treffe, gegen die sich Tomás häufig schwer tue. Denn Tomás habe Schwächen bei der Ballannahme und der Beschleunigung, etwas das gegen eng gestaffelte Abwehrreihen natürlich ungünstig ist. Wie bereits angeklungen ist sein optimale Position eher hinter der Spitze. Tomás sei ein schneller Spieler, so Jorge, der viel arbeite, gut presse und viele Läufe mache, entweder hinter dem Mittelstürmer oder auf den Flügel. Ähnlich beschrieb ihn auch vergangenen Sommer Tom Maston auf Goal.com: “Tomas’ work-rate and selflessness are regularly cited as two of his main attributes. His willingness to work backwards to get involved in link-up play may limit the amount of goals he scores, even if it facilitates others in finding the net.” Er könne Jorge zufolge Gegnern mit seiner Physis und der Pressingstärke schnell auf die Nerven gehen. Auf engem Raum und bei der Ballannahmen müsse er sich hingegen noch verbessern. Auch ist häufig zu lesen, dass er trotz diverser Tore in verschiedenen Wettbewerben nicht unbedingt ein Knipser ist. Am Besten passe er Jorge zufolge in ein System mit zwei Stürmern. Auf 101 Great Goals findet sich auch ein Artikel zu Tómas, der verschiedene Spielszenen, die zum Torerfolg führten analysiert und ihn vor allem als offensiv vielseitigen Spieler präsentiert. Der Text ist wie viele andere über ihn in Sportings Meistersaison geschrieben worden, und sind von der Sorte “players to watch”. Jorges Informationen sind da natürlich aus dem etwas reflektierteren Blickwinkel der aktuellen Saison.
Welche Strategie verfolgen also Sven Mislintat und ich nehme an auch Pellegrino Matarazzo mit der Leihe. Wie schon mehrfach angesprochen ist es nicht unbedingt das Abschlusspech, was dem VfB derzeit zu schaffen macht, sondern vor allem, dass er es nicht schafft, seinen noch nicht ganz fitten Torjäger Sasa Kalajdzic in genug gute Schusspositionen zu bringen, dass daraus unweigerlich irgendwann ein Tor fällt. Letzte Saison hatte der VfB mit die meisten Torschüsse der Liga. Das liegt natürlich auch an der fehlenden Eingespieltheit der Offensive, aber auch daran, dass bislang niemand so richtig den Silas der Vorsaison ersetzen konnte — nicht mal Silas selber. So blieb das Offensivspiel in den Händen der beiden zentralen Mittelfeldspieler, wobei Alexis Tibidi schon gute Ansätze zeigte, während seine Nebenleute, ob Förster oder Coulibaly, in der Rückrunde noch nicht überzeugen konnten. Bleibt Borna Sosa, von dessen Flanken man allerdings sogar schon in England gehört hat. Fazit: Der VfB ist zu leicht auszurechnen. Aus diesem Grund hat wohl Pellegrino Matarazzo im gerade beendeten Trainingslager in Marbella auch verschiedene Formationen ausprobiert. So könnte der VfB in der restlichen Saison mitunter mit Viererkette auflaufen — oder mit zwei Stürmern?
Soforthilfe, die wachsen muss
Die Verpflichtung von Tómas, der zwar wenig Einsatzzeiten hatte, aber am Samstagabend mit Sporting noch den Ligapokal gegen Erzrivale Benfica gewann, dürfte also durchaus als Soforthilfe gedacht und gleichzeitig auch mit Blick auf die nächste Saison getätigt worden sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass er in der Lage ist, das Offensivspiel des VfB variabler zu machen, auch wenn Probleme bei der Ballannahme aktuell kein Alleinstellungsmerkmal im Kader der Brustringträger ist. Vielleicht bringt er, auch im Zusammenspiel mit Kalajdzic, genau das mit, was dem VfB derzeit fehlt. Ich könnte ihn mir aber auch gut auf der rechten Position hinter den Spitzen vorstellen, zumindest solange Chris Führich die beste Option auf der rechten Außenbahn ist, weil Silas noch nicht die Energie für 90 Minuten hat. Es ist sowieso nicht davon auszugehen, dass uns ein Spieler alleine die ganze Saison rettet, vielmehr muss sich die ganze Mannschaft im Vergleich zu den letzten Spielen steigern. Für die kolportierte Leihgebühr von 500.000 Euro macht der VfB wie immer erstmal finanziell wenig falsch. Die Verpflichtung schadet nicht, wie beim Trainingslager in Marbella muss sich halt noch erweisen, ob sie hilft. Ob der VfB im Sommer 2023 in der Lage ist, die Ablöse zu bezahlen oder Tomás, wie seinen Landsmann Carlos Mané doch wieder ziehen lässt, ist jetzt sowieso noch nicht absehbar.
Aber hätte der VfB nicht lieber einen Ersatz für Marc Oliver Kempf holen sollen, ohne denn wir auf der linken Abwehrseite recht blank dastehen, sollte Hiroki Ito ausfallen? Auch das wird sich zeigen, auch wenn natürlich fraglich ist, ob man für das gesparte Geld einen gleichwertigen Ersatz für Kempf oder einen Torjäger, der direkt einschlägt, bekommen hätte. Vielleicht dachte man sich auch, dass es nach fünf torlosen Spielen wichtiger ist, vorne einfach mehr Tore machen zu können, als man hinten zulässt. Zumal Tomás mit Sporting jetzt auch nicht die allerschlechtesten Referenzen hat. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass Mannschaft und Trainer in der Pause — jetzt mit Tomás — den Schlüssel finden, um die Tür zum Klassenerhalt weit aufzuschlagen. Auch Tomás ist wie so viele Verpflichtungen von Sven Mislintat ein Spieler mit Potenzial, der früh auf einem hohen Level gespielt hat, aber jetzt an und mit der Mannschaft weiter wachsen muss. Ähnlich wie viele junge Spieler die schon länger im Kader sind, will er nach einer für die Mannschaft erfolgreichen Saison den nächsten Schritt machen, wenn auch auf einem höheren Level als manche seiner Mitspieler. Die Anlagen und auch die Einstellung dafür scheint er zu haben. Hoffen wir für uns und ihn, dass ihm das gelingt.
Titelbild: © Patricia de Melo Moreira/AFP via Getty Images
Nach der Leistungsexplosion von Ito waren wir auf der linken Innenverteidigerposition sogar eher überbesetzt, dass man da Kempf abgegeben hat um die Baustelle hinter dem Mittelstürmer zu schließen, klingt jetzt erstmal logisch. Und mit Sasa als Torjäger sind wir ganz vorne sicher ausreichend besetzt. Man kann höchstens streiten ob wir da eher den kreativen Passgeber benötigt hätten. Aber selbst da würde ich sagen, dass wir den tödlichen Pass im letzten Drittel aktuell nicht spielen können weil keiner in der Offensive die nötigen Läufe anbietet. Als Ito gegen Mainz vor dem 1:0 diesen Lauf gemacht hat bin ich vom Sofa aufgesprungen weil sofort klar war, dass da gleich was passiert. Das geht uns momentan einfach brutal ab, und Tomas scheint ja genau hierfür der ideale Kandidat zu sein.