Der VfB hat auf die Verletzung von Marcin Kaminski reagiert und Nathaniel Philipps für ein Jahr vom Liverpool FC ausgeliehen. Wir haben mit zwei Experten von der Merseyside über ihn gesprochen.
Dass sich in der Abwehr personell noch etwas tun würde, war spätestens nach dem Spiel in Heidenheim am Sonntag klar, als Holger Badstuber für seinen Auftritt zwar gelobt, aber dennoch die Notwendigkeit eines weiteren Transfers betont wurde. Diese Lücke scheint der VfB mit der einjährigen Leihe von Nathaniel Phillips vom Liverpool FC nun vorerst geschlossen zu haben. Kann sich der 22jährige Engländer im Zweikampf mit Maxime Awoudja und dem eben erwähnten Holger Badstuber um den Platz in der Innenverteidigung neben Kapitän Marc Oliver Kempf durchsetzen? Darüber haben wir mit zwei Liverpool-Experten gesprochen: John Gibbons (@johngibbonsblog) vom LFC-Fanpodcast und ‑Blog The Anfield Wrap und Jack Lusby (@jacklusby_), der für die seit 2001 bestehende Liverpool-Fanseite This is Anfield und für FourFourTwo schreibt.
Von Bolton nach Liverpool statt in die USA
Nathaniel Harry Phillips wurde im März 1997 im nordenglischen Bolton geboren und spielte bis zu seinem 19. Lebensjahr in den Nachwuchsmannschaften der Wanderers. 2016 war er eigentlich schon auf dem Weg in die USA, um dort mit einem Stipendium für die University of South Carolina aufzulaufen, in der Hoffnung, in die MLS gedraftet zu werden. In letzter Minute überzeugte ihn jedoch der Liverpool FC davon, in Großbritannien zu bleiben. Beide Experten hatten vorher noch nichts von Phillips gehört, was auch dafür spricht, dass die Nachwuchsarbeit von Bolton keinen besonders guten Ruf genießt. John führt das auf die Lage des Clubs zurück, der im Einzugsgebiet der Städte Liverpool und Manchester liegt und deshalb gleich mit mehreren Großvereinen um Talente konkurrieren muss. Liverpool habe davon profitiert, dass die Trotters, deren Nachwuchschef übrigens Nathaniels Vater und Ex-Bolton-Spieler Jimmy Phillips ist, viele junge Spieler aus finanziellen Gründen abgeben mussten. Jack erläutert, dass man Phillips zunächst als Ergänzungsspieler für die U23-Mannschaft gesehen habe, der wahrscheinlich in absehbarer Zeit zu einem niederklassigen Club weiterziehen würde.
Anders als in Deutschland spielen die älteren Nachwuchs‑, beziehungsweise die zweiten Mannschaften auf der Insel nicht im regulären, niederklassigen Ligabetrieb, sondern in einer eigenen Liga untereinander. Aktuell heißt diese Premier League 2 und besteht aus zwölf Vereinen. In dieser Liga absolvierte Phillips in den letzten drei Spielzeiten insgesamt 27 von 66 möglichen Partien, alle auf der Position des Innenverteidigers. In jeder der drei Spielzeiten erzielte er ein Tor. Im April 2018 war er für zwei Spiele sogar Kapitän der Mannschaft, was John zufolge darauf hinweist, wie viel man in Liverpool von ihm hielt. Vorletzte Saison spielte er übrigens mit Hertha-Spieler Marko Grujic zusammen. Angesprochen auf den Stellenwert von Philipps in der Mannschaft, die während seiner Zeit dort den dritten, zweiten und vierten Tabellenplatz erreichte, gehen die Meinungen unserer beiden Experten auseinander. John verweist darauf, dass er mit mittlerweile 22 Jahren durchaus eine Führungsrolle in einer Mannschaft innehatte, die aus vielen jüngeren Spielern zwischen 18 und 20 Jahren besteht. Jack sieht eher George Johnston, der den Verein ebenfalls am Donnerstag gen Feyenoord verließ, als Fixpunkt in der Innenverteidigung. Die Tatsache, dass Spieler wie Ilori, Gomez oder Sakho in die zweite Mannschaft versetzt wurden half Phillips Einsatzzeiten genauso wenig wie verschiedene Verletzungen. John verweist jedoch darauf, dass keine der Verletzungen auf eine chronische Beschwerde hinwiesen. So habe er zuletzt Rückenschmerzen gehabt, was für einen 1,88 Meter großen Spieler nicht ungewöhnlich sei, sowie Beschwerden am Knöchel.
Klassischer Verteidiger mit Ruhe am Ball
In den vergangenen beiden Sommerpausen war Philipps auch Teil der Vorbereitung von Jürgen Klopps Premier League-Mannschaft. Die Konkurrenz dort sei jedoch sehr groß, betonen John und Jack. John verweist zudem darauf, dass es junge Spieler in England generell schwer haben, weshalb sich beispielweise Jadon Sancho für eine Wechsel in die Bundesliga zu Borussia Dortmund entschied. Gerade auf der Innenverteidigerposition setzten viele Vereine vor allem auf Erfahrung und würden deshalb junge Spieler eher verleihen. Jack zufolge hätten Spieler wie die 17jährigen Sepp van den Berg und Ki-Jana Hoever perspektivisch zudem die Nase auf der Position von Phillips vorne. Auch für die Nachwuchsnationalmannschaften wurde er nicht nominiert, was laut John auch damit zusammenhängt, dass er lange für Bolton spielte.
Wie also passt Nathaniel Phillips in das System des VfB? Beide Experten betonen, dass er in der Lage sei, das Spielgerät über ein gutes und sauberes Passspiel aus der eigenen Hälfte heraus zu befördern. John betont seine Ruhe am Ball und vergleicht ihn vom Typ her mit Per Mertesacker, während Jack ihm attestiert, ein “klassischer Verteidiger” zu sein, der die Grundlagen der Defensivarbeit beherrscht und auf beiden Seiten der Innenverteidigung eingesetzt werden kann. Angesprochen auf die Kompatibilität mit dem Spielsystem von Tim Walter sind sich beide einig, dass dieses seiner Spielweise entgegen kommt. Als Schwäche führt John eine noch mangelnde Aggressivität an, Jack seine Probleme bei der Entscheidungsfindung. Offensiv sei er nicht außergewöhnlich gefährlich, auch wenn seine Körpergröße bei Standards durchaus ein Vorteil sei.
Keine Angst vor Herausforderungen
Generell sei die Premier League 2 schwer mit der 2. Bundesliga zu vergleichen, betonen Jack und John. Die Spiele würden weniger ernst genommen und seien daher weniger intensiv. Die größeren Zuschauerzahlen und die höhere Intensität seien also etwas Neues für Phillips. Beide sind sich aber sicher, dass er sich in der zweiten Liga durchsetzen kann, auch weil er, wie bereits angesprochen, in den letzten beiden Jahren mit der ersten Mannschaft Liverpools trainierte und dort nicht nur mithalten konnte, sondern auch sehr selbstsicher wirkte. Vor der Leihe verlängerte Philipps seinen Vertrag in Liverpool, John und Jack halten es jedoch auch nicht für unrealistisch, dass er trotz wahrscheinlich nicht vorhandener Kaufoption im Anschluss in Stuttgart bleibt. Wie John richtigerweise betont, geht es bei solchen Vertragsverlängerungen häufig auch darum, sich Transfererlöse zu sichern.
Abseits des Platzes haben John und Jack beide eine hohe Meinung von Phillips. Er sei ein bescheidener, aber ambitionierter Mensch, der auch vor Herausforderungen nicht zurückschrecke. Jack sagt: “I respect his decision to test himself out of his comfort zone”, und spielt damit nicht nur auf den Wechsel in die zweite deutsche Liga an, sondern auch auf den beinahe zustande gekommenen Wechsel in die USA.
Ein logischer Transfer
Mit der Leihe von Nathaniel Phillips hat der VfB den frei gewordenen Kaderplatz in der Innenverteidigung mit einer naheliegenden Option gefüllt. Er entspricht offensichtlich den Anforderungen von Mislintat und Walter, denn er ist mit 22 Jahren immer noch relativ jung und liegt damit ziemlich genau im Altersdurchschnitt der anderen Neuzugänge. Außerdem will er sich nach drei Jahren in der Reserve der Reds beweisen und für die Mannschaft von Jürgen Klopp empfehlen. Spielerisch bringt er grundsätzlich zudem größtenteils das mit, was Tim Walter von seinen Spielern fordert. Durch die Leihe bindet der VfB zudem nicht gleich wieder langfristig finanzielle Mittel, so dass für Kaminski nach dessen Genesung wieder Platz in der Viererkette ist. Um es kurz zu machen: Der Transfer ergibt grundsätzlich Sinn.
Gleichzeitig verjüngt der VfB damit seine (einsatzfähige) Mannschaft weiter. Wie wir am Sonntag gesehen haben, ist Holger Badstuber spielerisch durchaus eine Option für die Innenverteidigung, die direkt im Anschluss an das Spiel aufflammende und auch von ihm befeuerte Diskussion über seinen Status in der Mannschaft lassen mich aber vermuten, dass Maxime Awoudja und in der Zukunft dann auch Nathaniel Philipps eher den Vorzug bekommen werden. Ohne den beiden jungen Spielern pauschal weniger zutrauen zu wollen, erhöht das wiederum das Risiko, dass die beiden sich von abgezockten Zweitliga-Stürmern überraschen lassen. Denn klar ist auch: Philipps ist genauso wenig ein fertiger Spieler wie Awoudja. Das ist allerdings die Befürchtung, die ich schon seit ein paar Wochen habe. Ob sie zutreffen wird, werden wir in den nächsten Wochen erst sehen, denn für eine abschließende Bewertung der Herangehensweise von Walter und Mislintat ist es derzeit noch zu früh. Lässt man sich aber auf diese Herangehensweise ein, ist die Verpflichtung von Nathaniel Phillips logisch, der VfB macht damit nicht viel falsch.
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