Nach der Erlösung

Der VfB hat sich in der Nachspielzeit des letzten Saisonspiels noch den direkten Klassenerhalt gesichert, die Bilder davon und danach sind jetzt schon für die Ewigkeit. Aber was war das bloß für eine Saison und wie geht es jetzt weiter?

Wer sich am Montagabend das Rückspiel der Relegation zwischen dem HSV und der Hertha angeschaut hat und es mit dem Brustring hält, wird drei Kreuze gemacht haben, dass dem VfB diese Nervenschlacht erspart geblieben ist. Am Ende ist es alles gut ausgegangen, diese Seuchensaison, in der die Mannschaft viele Rückschläge und Widrigkeiten wegstecken musste, was ihr vor allem in der Rückrunde nur bedingt gelang. Aber wie schon beim Aufstieg 2020 zogen sich die Brustringträger mit einem Kraftakt innerhalb von zwei Spielen ans rettende Ufer. Und vielleicht war noch nie ein Tor im Abstiegskampf für den VfB so wichtig wie der Kopfball von Wataru Endo. Balakov 2001? Natürlich, wir wären wohl kaum sechs Jahre später Meister geworden. Ginczek 2015? Ja, aber sein Treffer in Paderborn zögerte das Unvermeidliche nur um ein Jahr hinaus. Nun kann der VfB aber in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit weiter mit Bundesliga-Einnahmen planen und muss jene Spieler, die er verkaufen muss, nicht unter Wert verkaufen, weil diese auf gar keinen Fall zweite Liga spielen wollen. Nicht, dass die nächste Saison mit den “etablierten” Aufsteigern Schalke und Bremen und den weiterhin neureichen Herthanern einfacher wird. Aber der VfB hat jetzt ein emotionales Fundament, auf dem er aufbauen kann.

Und eine ganze Saison voll Problemen und Fehlern, an denen er sich im positiven Sinn orientieren, aus der er lernen kann. Denn so erfreulich das Ergebnis war: Sein Zustandekommen hing am seidenen Faden. Der Klassenerhalt war kein Zeichen des Erfolgs, sondern des spät entdeckten Muts der Verzweiflung. Bereits wenige Tage nach dem Spiel gegen Köln gingen Vorstandsvorsitzender und Sportvorstand Alexander Wehrle, Sportdirekter Sven Mislintat und Trainer Pellegrino Matarazzo in Klausur, um die Lehren aus der abgelaufenen Saison zu ziehen. In den Folgetagen kam zuerst Wehrle und dann Matarazzo auf den vereinseigenen Kanälen zu Wort. Während der eine die Weiterbeschäftigung von Trainer und Sportdirektor bekräftigte, redete der andere über Fehler, auch die eigenen, und das Verbesserungspotenzial in der kommenden Saison. Am Ende müssen sich Mannschaft und Trainer natürlich daran messen lassen, was sie wirklich aus der vergangenen Saison gelernt haben. Für den Moment sind Matarazzos Einlassungen aber sehr erfrischend, denn so selbstkritisch, aber auch analytisch nach vorne blickend hat man lange keinen VfB-Trainer mehr erlebt. Er will die Fitness optimieren, die Ansprache an die Mannschaft verändern, eine bessere Balance zwischen Talententwicklung und Ergebnissen und schließlich die miserable Chancenverwertung verbessen. Verletzungen, Widerstandsfähigkeit, ausbleibende Entwicklung und Torausbeute: Für viele Fans und Beobachter waren das die Kernprobleme der vergangenen Saison. Für alle diese Punkte spricht er relativ konkrete Gegenmaßnahmen an.

Die Chance ergreifen

Es tritt jetzt hoffentlich das ein, was ich schon vor zwei Jahren nach der unsäglichen Derby-Niederlage gefordert habe: Es kann nicht die Lösung sein, im Falle des Misserfolgs – und ein solcher wäre diese Saison beinahe geworden – einfach nur die Verantwortlichen auszutauschen. Stattdessen müssen diese Lösungen für die Probleme finden. Ich war auch während der Saison mehr von Matarazzo überzeugt, als ich es nicht war. Seine reflektierte Saisonanalyse bestätigt mich in der Meinung, dass es richtig war, an ihm festzuhalten. Er, Sven Mislintat und der gesamte VfB haben jetzt zum ersten Mal seit Jahren wieder die Chance, in Bad Cannstatt etwas aufzubauen, den Verein für Bewegungsspiele wieder in der Bundesliga zu etablieren. Auch das passiert nicht von heute auf morgen, aber wenn wir es richtig anstellen, geht es jetzt so langsam wieder bergauf mit diesem Verein und seinen Fans, die in den letzten zehn Jahren so viel einstecken mussten. Viele Chancen auf den frühzeitigen Klassenerhalt hat die Mannschaft in den letzten Wochen liegen gelassen. Diese Gelegenheit, die schlimmen Jahre hinter uns zu lassen, sollten wir ergreifen.

Zum Abschluss noch, statt eines langatmigen Rückblicks auf eine Saison, die wir überm Strich abgeschlossen, aber unterm Strich lieber vergessen würden noch ein paar interessante Statistiken, von denen einige sicherlich auch in die Planungen für die neue Saison einfließen.

  • Expected Goals: 45:51 Tore und eine Tordifferenz von -6 wurden statt der tatsächlichen statt real 41:59  Tore und einer Tordifferenz von -18.
  • Mit 34 hat der VfB nach Hertha die zweitmeisten Spieler eingesetzt, mit 135 die zweitwenigsten Spieler nach Gladbach eingewechselt
  • Mit 24 Jahren stellte der VfB im Schnitt die jüngste Mannschaft
  • Thema Torhüter: Flo Müller und Fabi Bredlow hatten kombiniert nur eine Fangquote von 64 Prozent, spielten nur vier Mal zu Null.
  • Nach Fürth und Hertha kassierte der VfB mit neun die drittmeisten Tore nach Ecken
  • Apropos Ecken: Niemand schlug die eigenen Eckbälle so selten zum Tor hin wie der VfB mit 26, niemand zog sie so häufig vom Tore weg wie der VfB.
  • Skurille Statistik: Nur Wolfsburg spielte mehr Pässe mit dem linken Fuß.
  • Übrigens spielte der VfB mit 48 nach Bielefeld und Frankfurt die drittwenigsten Pässe ins Abseits
  • Überhaupt Pässe: Borna Sosa schlug die drittmeisten Flanken der Liga und ist auch sonst bei allen wichtigen Pass-Statistiken vorne mit dabei.
  • Wenn im Aufbauspiel was ging, dann meist über ihn, er hat die drittmeisten Bälle in die gegnerische Hälfte getragen. Kein Wunder, dass wir ihn wohl nicht mehr im Brustring sehen werden.
  • Zweiter Schlüsselspieler: Wataru Endo, nicht wegen seines Tores, sondern weil nur drei Spieler in der Bundesliga häufiger ins Pressing gingen als er.
  • Was man diese Saison schon fast vergessen hatte, ist die Dribblingstärke der Mannschaft: Nach Bayern und Leverkusen hatten sie die drittmeisten erfolgreichen Dribblings und die drittmeisten, die zu Schüssen führten
  • Nur zwei Mannschaften tunnelten ihre Gegner beim Dribbling häufiger als der VfB.
  • Kommen wir zu Abwehr: Die Mannschaft blockte 146 Schüsse aufs Tor ab, so viele wie sonst nur Freiburg. Bester Blocker: Mavropanos mit ligaweit spitzenmäßigen 84 Blocks.
  • Ach Dinos: Mit 45 hat er diedrittbeste Erfolgsquote beim Pressing und die viertmeisten abgefangenen Bälle.
  • Nur sieben gegnerische Schüsse resultierten aus Fehlern der VfB-Abwehr, nur Mönchengladbach hat hier einen besseren Wert.
  • Auch in der Luft war der VfB erfolgreich: Mit 56 Prozent haben die Brustringträger die besten Zweikampfquote bei Luftduelle, die beste individuelle Erfolgsquote hat Mavropanos mit 81 Prozent

Es gibt noch so viele Statistiken, in denen der VfB meist im Mittelfeld landet. Was zeigt, dass die Saison nicht komplett katastrophal war – aber in vielen Bereichen Luft nach oben war.

Zum Weiterlesen: Der Vertikalpass nimmt sich den Kader einzeln vor. Stuttgart.international untersucht vier populäre Thesen zur Saison.

Titelbild: © Matthias Hangst/Getty Images

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