Die zweite Niederlage in Folge muss der VfB im Heimspiel gegen Kiel einstecken. Ist es schon wieder an der Zeit, den Krisenmodus auszurufen?
Natürlich könnte man sich in der Nachbetrachtung des zehnten Liga-Spiels dieser Saison auf Emiliano Insuas gruseliges Abwehrverhalten beim Siegtreffer von Jae-Sung Lee konzentrieren. Oder auf die Frage, ob man einerseits als Schiedsrichter einen Spieler nach nach zwei Fouls vom Platz schicken muss und ob man andererseits als Spieler mit Champions League-Erfahrung so dämlich in diese beiden Zweikämpfe gehen und seinen Frust anschließend noch in Sexismus auf Teenager-Niveau ausleben muss. Oder ob Nico Gonzalez eine der wenigen Chancen zur Führung nutzen muss, bevor Kiel überhaupt die Möglichkeit zur selbigen hat. Das wären aber alles nur Teilaspekte, die zum frustrierenden Ergebnis vom frühen Sonntagnachmittag führten. Es hakt beim VfB momentan im Gesamten.
Passspiel ins Nirgendwo
Denn auch nach zehn Spielen scheint sich in der Mannschaft noch nicht herumgesprochen zu haben, dass das von Trainer Tim Walter verordnete Ballbesitzspiel kein Selbstzweck ist, sondern zu Torchancen und ultimativ zum Torerfolg führen soll. Viel zu häufig traten die Spieler in dieser Saison in der Geisteshaltung auf, dass einer dieser zahlreichen Querpässe schon irgendwann ins Tor kullern würde. Das funktionierte acht Spiele lang recht passabel, gegen Wehen Wiesbaden hätte es mit ein wenig mehr Glück auch funktioniert, gegen Kiel war es dann schließlich einfach zu wenig. Denn auch wenn Förster, Gonzalez, Wamangituka und Gomez in diesem Spiel wieder ihre Chancen hatten: Sie wurden entweder schlecht ausgeführt — was passieren kann — oder schlecht vorbereitet — was nicht passieren darf. Jetzt war ja aus den Gesprächen mit Sven Mislintat am Dunkelroten Tisch herauszuhören, dass Spieler wie Atakan Karazor oder Emiliano Insua genau diese Vorgabe des Trainers bekommen, nämlich das Spiel mit Querpässen breit zu machen oder den Ball auch mal aus dem Halbfeld in den Strafraum zu schlagen. Das wird aber wohl nicht die Vorgabe an die gesamte Offensivabteilung sein.
Was dem VfB bei Spielergleichstand fehlte, waren erneut Konzentration, Gedankenschnelligkeit und Ballsicherheit. Das Waltersche Passspiel versandet leider im Nirgendwo, wenn sich keiner für den Vertikalpass entscheidet oder ihn gar nicht erst spielen kann, weil der Ball erneut fünf Meter vom Fuß springt oder der Pass unsauber gespielt wird. Ja, es ist schwer, eine tiefstehende Abwehr auszuhebeln, aber es ist nicht unmöglich und wird in dieser Saison der Schlüssel zum Erfolg. Dafür muss die Mannschaft aber ihre Behäbigkeit ablegen und anfangen, sich ihre Chancen zu erarbeiten, anstatt einfach nur zu warten, bis das Tor fällt oder sich einer der Zweitliga-Spieler doch von der individuellen Klasse manches VfB-Stürmers überfordert fühlt.
Chaos in Unterzahl
Dass das nach dem Platzverweis nicht einfacher werden würde war klar. Trotzdem ist es erschreckend, wie chaotisch die Brustringträger in Unterzahl agierten. Dass man weiter nach vorne spielte und versuchte, zum Ausgleich zu kommen, ist nachvollziehbar, ebenso, dass das natürlich erst recht die Räume für einen zweiten Kieler Treffer öffnete. Aber die Ideenlosigkeit und Schlampigkeit der ersten Hälfte potenzierte sich nach Badstubers Abgang, so dass es am Ende vielleicht besser gewesen wäre, man hätte sich mit den verbliebenen zehn Feldspielern am eigenen Strafraum verschanzt. Je häufiger der VfB einen Angriff unsauber einleitete, desto eher machte sich das Gefühl breit, dass auch dieses Spiel verloren gehen würde. Kurzum: Die Mannschaft macht es sich derzeit zu leicht und hat vor allem gegen Kiel die verdiente Quittung dafür bekommen. Denn alle Spieler, egal ob erfahrene wie Badstuber, Castro oder der erneut unsichtbare Gomez, oder junge wie Startelf-Debütant Massimo, Wamangituka oder Ascacíbar können mehr, als sie in den letzten beiden und teilweise auch in den letzten zehn Spielen gezeigt haben.
Wo es beim VfB noch hakt? Ganz eindeutig auch auf der Tribüne. Ich war natürlich nicht im Stadion und kann daher auch nicht ausschließen, dass die Pfiffe nach 30 Spielminuten nicht auch aus der Cannstatter Kurve kamen, aus der langjährigen Erfahrung heraus halte ich das nur in einzelnen Fällen für realistisch. Ja, man kann frustriert sein, wenn man vor zwei Wochen gegen den Tabellenletzten verloren hat und jetzt im Spiel gegen die nächste Mannschaft aus dem Tabellenkeller noch nicht so wirklich viel zusammenläuft. Wenn man aber nach nicht einmal einer halben Stunde schon anfängt zu pfeifen, weil Marc-Oliver Kempf eine Pass auf Gregor Kobel spielt, dann fehlt es offenbar nicht nur an der Geduld, sondern auch allgemein am Verständnis von Fußball und ganz speziell am Interesse am Fußball des VfB. Wie kann man nach elf Pflichtspielen immer noch nicht kapiert haben, dass die Torhüter unter Tim Walter in den Spielaufbau miteinbezogen werden? Wie kann man überhaupt auf die Idee kommen, bei 0:0 in der ersten Halbzeit — oder bei 0:1 in Unterzahl in der zweiten Halbzeit — die eigene Mannschaft auszupfeifen? Natürlich sind wir von Enttäuschungen und Misserfolgen gebrannte Kinder und auch ich habe meinen Frust schon während und vor allem nach dem Spiel an den Abstiegsversagern der letzten Jahre ausgelassen. Aber warum zu diesem Zeitpunkt der Saison, in dieser Situation, mit dieser jungen und neu zusammengestellten Mannschaft? Da verzichte ich doch lieber auf Zuschauerrekorde in der zweiten Liga, als mir so etwas anhören zu müssen.
Fehlerfrei ist keiner
Was mich zur immer lauter werdenden Kritik an Tim Walter bringt.
Aber man muss halt diese Dinge auch mal ansprechen und aufzeigen dürfen ohne dass es gleich heißt man will zwingend den Trainer loswerden. Will ich nämlich nicht.
— Jens1893 (@Jens1893) October 20, 2019
Es ist ein der Tat ein schmaler Grat, auf dem man sich als VfB-Fan bewegt. Einerseits möchte man nicht schon wieder Gefahr laufen, sich wie bei Korkut von Ergebnissen blenden zu lassen, andererseits bestätigt eine Trainerdiskussion nach zwei Niederlagen in elf Saisonspielen genauso wie die Pfiffe in Heimspielen genau das Vorurteil vom bruddelnden schwierigen Umfeld, gegen das ich seit Jahren ankämpfe. Natürlich ist beim VfB keiner fehlerfrei, sonst ständen wir mit 30 Punkten unangefochten an der Tabellenspitze. Klar kann und muss man auch diskutieren, ob Wamangituka und Massimo auf den Flügeln die beste Idee waren oder ob nicht vielleicht doch eine Raute mit Förster oder Klement auf der Zehn und zwei Stürmern vorne zielführender gewesen wären. Ich meine aber, uns wäre allen seit spätestens Ende Juli klar, wie es diese Saison laufen wird: Der VfB muss eigentlich aufsteigen, ist aber mit einem neuen Trainer, vielen neuen Spielern und einem komplett neuen Spielsystem, für das viele Spieler spezifisch geholt wurden, ein gewisses Risiko eingegangen. Das führte in den ersten neun Pflichtspielen mit mal mehr, mal weniger Glück dazu, dass man kein Spiel verlor und in den letzten beiden Spielen mit etwas Pech zu zwei Niederlagen. Dass der Saisonstart nicht wie geschnitten Brot läuft, sollte eigentlich jedem klar gewesen sein.
Das ist kein Freifahrtschein für Walter, aber es ist eben auch kein Freifahrtschein dafür, nach zehn Spielen schon die Saison und den sportlichen Neuanfang für beendet zu erklären und seinen Rauswurf zu fordern. Ja, ich weiß, das tun nicht alle, die ihn kritisieren, aber bei vielen schwingt schon wieder mit: Der taugt nichts. Genausowenig wie man das Wirken von Thomas Hitzlsperger und Sven Mislinat zur Zeit abschließend bewerten kann, kann man das mit Tim Walter machen. Kritik ist selbstverständlich nach zwei Niederlagen in Folge angebracht, aber bitte nicht so fundamental, wie sie jetzt teilweise schon wieder vorgetragen wird.
In der Kritik standen gegen Kiel auch zwei andere Akteure: Schiedsrichter Benedikt Kempkes und Holger Badstuber. Klar ist: Ein erfahrener Spieler wie Badstuber, der auch im sehr hörenswerten Interview mit Max-Jacob Ost im Rasenfunk das ein oder andere Mal sehr altklug daherkam, darf sich das Foul, das zur ersten gelben Karte führte, einfach nicht leisten und sollte mit einer gelben Karte im Hinterkopf erst recht etwas vorsichtiger agieren. Gleichzeitig zeugt es von nur wenig Fingerspitzengefühl, ihn für dieses zweite Foul direkt vom Platz zu stellen und es nicht bei einer Verwarnung zu belassen. Es ist das gleiche Fingerspitzengefühl, das schon bei der gelbroten Karte für Sosa nach dem allzu leichten Umfallen gegen Aue oder beim Platzverweis für Bielefelds Klos fehlte. Es scheint, als habe man in dieser Liga nur die Wahl zwischen Schiedrichtern wie Zwayer und Winkmann oder verhältnismäßig unerfahrenen wie Kempke und Gerach. Erstere sind einfach nur schlecht, letztere wollen sich scheinbar für höhere Aufgaben empfehlen und legen deshalb die Regeln besonders konsequent aus. Das kann man machen, zur Spielleitung gehört aber mehr als nur die Befolgung der Regeln bis aufs Jota.
Krise nein, Alarmglocken ja
War der Platzverweis also spielentscheidend? Ja und nein. Ich bin mir sicher, der VfB hätte zu elft noch irgendwann, irgendwie sein Tor gemacht und wir würden erneut über einen knappen glücklichen Heimsieg reden. Gleichzeitig kann es aber nicht sein, dass unsere Mannschaft nach dem Platzverweis spielerisch so auseinanderfällt, dass man froh sein muss, dass es nur 35 Minuten in Unterzahl waren und nicht mehr. Die gleiche uneindeutige Antwort habe ich auf die eingangs gestellte Frage nach dem Krisenmodus. Die Mannschaft muss gegen Hamburg zwei Mal ein anderes Gesicht zeigen, gleichzeitig wird Hamburg auch anders auftreten und ist wesentlich gefährlicher als andere Gegner in der Liga. Je nachdem, wie das Spiel heute Abend ausgeht sind wir bei Anpfiff im Volksparkstadion Dritter oder gehen mit ein bis drei Punkten Rückstand ins Spiel. Auf der anderen Seite haben wir den zehnten Spieltag. Wir mussten 2016/17 auch ärgerliche und bittere Niederlagen hinnehmen und sind am Ende trotzdem aufgestiegen. Und es ist jetzt nach zwei Niederlagen auch nicht alles schlecht, was vor vorher weniger dramatisch oder gut bewertet wurde. Krise? Nein. Aber die Alarmglocken sollten spätestens jetzt läuten, damit man entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten kann.
Ein letztes Wort noch zu Holger Badstuber. Dass “Muschis” als Beleidigung für den Schiedsrichter sexistische Kackscheiße ist, ist denke ich mal Konsens. Dass ein solcher Sprachgebrauch “im Fußballerdeutsch”, wie Mario Gomez es nennt, leider Usus ist, dürfte auch keinen überraschen, auch wenn es das nicht besser macht. Badstuber schafft sich leider auch durch Auftritte im Rasenfunk, wo er sich selber als erfahrenen Führungsspieler darstellt, eine Fallhöhe, von der er in der Vergangenheit sportlich, in diesem Fall auch was die Führungsqualitäten angeht, nicht herunterkommt. Ich erwarte von jemandem wie ihm nicht nur ein nicht so rückständiges Frauenbild — aber das erwarte ich eigentlich von allen Fußballern, auch wenn es wahrscheinlich unrealistisch ist — sondern auch weniger Unbedachtheit. Man kann die gewünschten Ecken und Kanten bei Fußballern nicht immer im dummem Geschwätz gleichsetzen.
Also bei Badstubers Kinderstube scheint ganz schön der Kater gemaust zu haben, aber irgendwie bin ich doch froh, dass meine geliebten Bratwürste endlich mal aus dem Spiel sind.
Und wann bitte schön ist der Saisonstart vorbei? Nach 10% der Spiele, nach 30% der Spiele oder erst, wenn das Ende mit dem 34. Spieltag eingeläutet wird?
Als Fazit bleibt: Spielsystem greift nicht, jetzt muss entschieden werden, ob überhaupt nicht oder ob noch nicht. Und die Antwort auf diese Frage wird dann auch einen Fingerzeig drauf geben, wie es personell weitergehen könnte.
Also ich persönlich hätte keinerlei Probleme damit, wenn mit den jetzigen Personen das System zu überarbeitet würde , aber ich bin erstens sehr weit weg und kenne keine Internas und habe zweitens so meine Zweifel, ob alle Personen mit einer Überarbeitung des Systems leben könnten oder doch der eine oder andere zorniger werden würde …
Und zum Schluss: Mein Bauch sagt schon seit dem Abstieg, dass wir nicht sofort wieder aufsteigen werden, und mein Bauch ist stur, das wiederum sagen meine Diäten …
Alles andere außer “Krise” trifft doch den Zustand des VfB nicht,
wenn Trainer und Sportdirektor unisono zufrieden mit sich und der Profimannschaft sind und “weiter so” als seligmachende Parole ausgeben,
wenn unter den Tisch gekehrt wird, dass viele Spieler sogar weit unter dem Niveau vom Abstiegsjahr spielen,
wenn nur die fehlende Chancenverwertung kritisiert wird und niemand erkennen will, dass seit Monaten eine unfassbare Fehlerquote bei Pass, Ballannahme und Zweikampfverhalten besteht,
wenn niemanden stört, dass der VfB seit dem ersten Spieltag ein grottenschlechtes Aufbauspiel fabriziert, so daß das Zuschauen zur Qual wird,
wenn man von einer “eingespielten” Mannschaft weiter entfernt ist als jemals zuvor,
wenn man nacheinander gegen die schlechtesten Mannschaften der 2. Liga verdient verliert und weiterhin an den Wiederaufstieg glaubt — wozu?, möchte man fragen…