Der VfB berappelt sich und wirft den HSV mit 2:1 nach Verlängerung aus dem Pokal. War die ganze Aufregung also umsonst? Und woher kommt die eigentlich?
Achtung, Phrasenalarm: Fußball ist ja schon irgendwie eine bemerkenswerte Freizeitbeschäftigung und Pokalwettbewerbe erst recht, denn die haben ihre…ok, lassen wir das. Aber nachdem mich die 2:6‑Klatsche im Ligaspiel beim HSV am vergangenen Samstag im Rückblick zu einem Rundumschlag in Sachen Unzufriedenheit mit dem VfB veranlasste, war ich nach dem späten Sieg in der zweiten Pokalrunde so zufrieden wie lange nicht mehr nach einem Spiel. Aber warum und woher rührte die überbordende Unzufriedenheit in den Spielen davor, nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen?
Die Lernkurve
Die Zufriedenheit nach dem Pokalspiel lässt sich vor allem dadurch erklären, dass Mannschaft und Trainer wie gefordert die Lehren aus dem Liga-Debakel zogen.
Kein Neustart, aber eine Lernkurve, bitte. #VfB #HSVVfB https://t.co/TBn67IHEgR
— rey bucanero (@ReyBucanero74) October 28, 2019
Dass eine solche Lernkurve vorhanden war, wurde nicht nur am Ergebnis deutlich, mit dem der VfB zum dritten Mal in den letzten sechs Jahren ins Achtelfinale einzog. Ließ man sich am Samstag noch von den Hamburgern überrennen und durch zwei frühe Gegentore aus dem Konzept bringen, lief das Spiel diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Bevor überhaupt nur ein HSV-Spieler den Ball berührt hatte, lag dieser bereits im Tor der Hausherren. Beeindruckend, mit welcher Coolness Nicolas Gonzalez, gerade nach der letzten Saison, vor der Hamburger Heimkurve den Elfmeter versenkte. Zwar glich der HSV seinerseits durch einen etwas zweifelhaften Elfmeter — die Grätsche von Ascacíbar war zwar unnötig, aber eben auch ohne Berührung des Gegenspielers — aus, anders als am Samstag fiel die Mannschaft allerdings nicht auseinander.
Neue Möglichkeiten
Der kürzlich als so furchtbar stur verrufene Tim Walter ersetzte die Raute im Mittelfeld durch ein 4–3‑2–1, die am Samstag überforderten Awoudja und Insua durch Badstuber und Castro und ließ Gonzalez als einzigen Stürmer auflaufen. Was auffiel: Kempf und Badstuber, ohne Zweifel das ballsicherste Duo in der Viererkette, schob zwar weiterhin im Spielaufbau nach Walterscher Maßgabe nach vorne, aber nicht so extrem wie es Kempf und Awoudja am Samstag getan hatten. So konnten sie die wesentlich weniger aggressiv anlaufenden Hamburger besser unter Kontrolle halten und hatten zudem insbesondere mit Castro eine ballsichere und zweikampfstarke Absicherung, die vielleicht auch eine Zwischenlösung bis zu Borna Sosas endgültiger Genesung ist.
Auch im Spiel nach vorne stellte sich der VfB geschickter an. Zwar gab es auch in diesem Spiel wieder einige lange Bälle, diese wurden aber nicht einfach nur aus Verzweiflung, sondern meist mit Kalkül geschlagen. Eine weitere Variante waren vertikale Bälle entlang der Außenlinie, die dann von den Außenbahnspielern Mangala und Ascacíbar sowie Förster und Klement diagonal Richtung Strafraum getragen wurden. Zwar blieb in der Offensive immer noch vieles Stückwerk, das war aber einerseits mit zunehmender Spieldauer auch dem do-or-die-Charakter eines Pokalspiels geschuldet, andererseits war der Gegner nun auch nicht gerade Fallobst. Und dann gab es da noch eine entscheidende Änderung zum Ligaspiel:
Ich denke, ausschlaggebend waren weder das 4–3‑2–1 noch die langen Bälle, sondern der Einsatz und Wille. Kämpferisch war das vom Allerfeinsten.
— rey bucanero (@ReyBucanero74) October 30, 2019
Balsam nach anstrengenden Tagen
Die Mannschaft wollte unbedingt die richtige Reaktion auf die samstägliche Blamage zeigen und sie tat es auch, wie der Vertikalpass festhält. Der HSV hatte auch deshalb nicht so leichtes Spiel, weil die Brustringträger vorne und hinten wach waren und sich jeden verloren gegangenen Ball zurückholen wollten. Spielentscheidend war vielleicht am Ende, dass sich Tim Walter zwei seiner insgesamt vier möglichen Wechsel (im Pokal darf ja in der Verlängerung ein zusätzliches Mal gewechselt werden) für die Verlängerung aufhob. Auch Wamangitukas beeindruckender Lauf, der in einem Pfostenschuss endete, kann ein Fingerzeig für die nächsten Spiele sein, der Siegtreffer vom kurz zuvor eingewechselten Al Ghaddioui war auf jeden Fall Balsam auf geschundene Fanseelen.
Denn die drei Tage und ehrlicherweise auch die Wochen davor waren anstrengend. Gab der Erfolg dem Trainer vor dem Wiesbaden-Spiel recht, fiel diese Argumentationslinie mit jeder der drei folgenden Niederlagen in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr in sich zusammen. Obwohl der VfB nach zehn Spielen nach expected goals die zweite Liga anführte wurde aus dem sportlich erfolgreichen Saisonstart schnell eine Serie von wenig überzeugenden, glücklich gewonnenen Spielen.
#xG-Tabelle der 2.Liga nach 10 Spieltagen.#fcsp versinkt im Mittelmaß.
Look at #aue defensiv… #dsc, #VfB und #hsv zurecht oben.#h96 stabilisiert, #fcn stagniert, #sgd im freien Fall.#ksc macht aus wenig viel und #vfl1848 aus viel wenig
(data after @FiveThirtyEight) pic.twitter.com/LQwEUqulZf— Tim Ecksteen (@tim_ecksteen) October 22, 2019
Und ganz schnell hieß es: Wenn wir jetzt im Pokal auch noch auf die Fresse kriegen, ist Walter so gut wie weg und vielleicht ist das ja auch gut so, denn der passt mit seiner überheblichen Art überhaupt nicht zu uns und mit seiner Sturheit erinnert er uns ungut an Alexander Zorniger.
Vorhang auf für seine Horror-Show!
In diesem Vergleich liegt meiner Meinung nach auch der Kern der heftigen Emotionen und Trainerdiskussionen der vergangenen Tage. Denn auch wenn der Vergleich zwischen Walter und Zorniger gewaltig hinkt — Walter will den Ball haben, Zorniger den Gegner mit Ball jagen; Walter scheint in einer Mannschaft mit vielen jungen Spielern ein gutes Standing zu haben, Zorniger scheiterte an seiner Spieleransprache und an der Bequemlichkeit der Führungsspielerriege — so offenbart er doch einen ziemlich guten Einblick in das Gemüt vieler VfB-Fans: Angst und Enttäuschung.
Denn auch wenn der Abstieg 2016 vielschichtigere Gründe hat, ist Alexander Zorniger für viele von uns immer noch das Schreckgespenst. Der Mann, der Manchester City schlug und seine Mannschaft mit voller Überzeugung ins Verderben rennen ließ, der damit den Boden bereitete für den ersten Abstieg seit 40 Jahren, den viele schon lange erwartet hatten, der aufgrund des Saisonverlaufs dann doch überraschend kam. Vier Jahre später trifft ein selbstbewusster und von seinen Methoden überzeugter Tim Walter auf eine tief verunsicherte Fanszene, die nach Jahren der großen Versprechungen und Ziele, der Rückschläge und Enttäuschungen, einfach nur noch, salopp gesagt, aufn Arm will. Am liebsten keine Experimente, keine Spannung, kein 5:4, sondern einfach nur eine entspannte Saison im kuscheligen Mittelfeld der Erstliga-Tabelle. Es soll bitte, bitte aufhören, immer schlimmer zu werden.
Holt uns ab!
Das sind keine allzu hohen Ansprüche, trotzdem tut man sich beim VfB derzeit schwer damit, die Fans in diesem Gemütszustand abzuholen. Das offenbaren die Interview-Aussagen von Hitzlsperger und Mislintat, aber auch die Aussagen von Walter auf der Pressekonferenz nach dem Liga-Spiel in Hamburg. Hitzlsperger, Mislintat und Walter, alle noch nicht so furchtbar lange im Amt, können zwar nichts dafür, aber die Skepsis und das Misstrauen und die daraus resultierenden Emotionen hat sich der Verein selbst zuzuschreiben. Wir wurden mit unrealistischen Champions League-Träumerein für dumm verkauft, als ahnungslose Vollidioten beschimpft, uns wurde mehrfach ein radikaler Neustart versprochen, der nie eintrat. Dass viele VfB-Fans den sportlich Verantwortlichen nicht weiter trauen, als sie sie werfen können, ist hausgemacht.
Das gilt auch für die Vereinspolitik. Die Bekanntgabe der beiden Kandidaten für die Präsidentenwahl am 7. November steht ja kurz bevor und als ob in den letzten Tagen auf dem Rasen nicht schon genug los war, sorgte der VfB erst mit der Bekanntgabe einer vier Namen umfassenden Shortlist und der Nicht-Berücksichtigung von Guido Buchwald für Aufsehen, sondern befindet sich derzeit noch in einem scheinbar ziemlich verfahrenen Rechtsstreit mit dem Dienstleister, der auf der geschichtsträchtigen Mitgliederversammlung im Sommer für das W‑LAN zuständig war. In früheren Zeiten hätte man sich vielleicht über die Bekanntgabe einer Kandidatenliste an einem Freitagabend gewundert (ehrlicherweise hätte man sich schon darüber gewundert, dass es mehr als einen Kandidaten gibt), im Herbst 2019 schießen hingegen sofort die Spekulationen ins Kraut: Warum steht Guido Buchwald nicht zur Wahl? Wer sind Martin Bizer und Susanne Schosser? Mit wem von denen war Wilfried Porth schon Maultaschen essen? Ähnlich ist es bei der W‑LAN-Debatte, bei der der VfB einerseits namhafte Gutachter auf seiner Seite hat, die ihn von jeglicher Schuld freisprechen, andererseits aber die Macht des Zweifels: Es ist der VfB, die werden es schon wieder irgendwie falsch gemacht haben.
Der Preis des Opportunismus
Auf dieser Ebene ist das Misstrauen und die Enttäuschung gegenüber dem Verein fast noch gravierender als beim Trainer. Wir wurden in den letzten Jahren mehrfach systematisch belogen, für dumm verkauft, beleidigt und zu schlechter Letzt auch noch mit Netznazis in einen Topf geworfen und bei der Polizei angezeigt. Wolfgang Dietrich ist weg, aber die Strukturen und Personen, die ihn förderten und stützten sind fast vollständig noch da. Vor allem jene, die eine Verantwortung gegenüber den Mitgliedern haben, sind gerade schwer damit beschäftigt, diese davon zu überzeugen, dass beim VfB wieder alles mit rechten Dingen zugeht. Dass sie sich dabei mit einem Dampfplauderer wie Guido Buchwald auseinandersetzen müssen und damit, dass dessen Vorwürfe bei vielen Fans große Resonanz haben, ist der Preis des Opportunismus. Wer die Präsidentschaft Wolfgang Dietrichs für alternativlos hielt, muss sich jetzt eingestehen, dass die Alternativen nicht nur vorhanden, sondern besser sind.
Also lieber Tim Walter, lieber Sven Mislintat, lieber Thomas Hitzlsperger und lieber Vereinsbeirat: Dieser Verein hat in den letzten Jahren auf allen Ebenen jegliche Vorschusslorbeeren und jeglichen Kredit bei seinen Fans aufgebraucht, um nicht zu sagen verschwendet. Teilweise ist das Eure Schuld, teilweise nicht. Aber wundert Euch nicht über unsere Skepsis, unsere Verschwörungstheorien, unsere Zweifel und unsere Verzweiflung. Wir schießen zwar manchmal übers Ziel hinaus, aber Schuld an unserer Angst sind nicht wir. Ihr als Verein müsst Euch unser Vertrauen erst wieder erarbeiten.
Nicht nachlassen!
Kurz zurück zum Sportlichen, auch damit ich noch die Kurve zur Überschrift kriege. Ist jetzt plötzlich wieder alles gut? Tim Walter wieder ein ausgewiesener Trainerfuchs, nachdem der den Trainerfuchs Dieter Hecking überlistet hat? Natürlich nicht. Mit Dresden treffen wir wieder auf einen Abstiegskandidaten, der alles dafür tun wird, unbeschadet aus dem Auswärtsspiel beim Absteiger und Tabellendritten rauszukommen. Aber der Sieg sorgt hoffentlich für Selbstvertrauen, für die Einsicht, dass der VfB in jedem Zweitligaspiel an seine Grenzen gehen muss und für ein paar Inspirationen, wie wir in Zukunft zu mehr Toren kommen. Nach Dresden kommt mit Osnabrück ein weiteres Team aus dem Tabellenkeller und danach kommt das Derby. Der VfB darf jetzt keine Sekunde und keinen Zentimeter nachlassen, sondern muss seinen Ballbesitz endlich für eine stabile Defensive und eine gefährliche Offensive nutzen.
Titelbild: © Getty/Bongarts