Es war ein Fußballabend, wie man ihn beim VfB schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ohne Vereinspolitik, ohne Diffamierungen, ohne “Dietrich Raus” und mit ganz viel schönem Fußball.
Bei der Saisoneröffnung der zweiten Liga lief trotz eines über weite Strecken ungefährdeten 2:1‑Sieges längst nicht alles perfekt beim VfB Stuttgart. Eine höchst umstrittene Schiedsrichter-Leistung, ein missglücktes Pflichtspiel-Debüt, eine gänzlich neue Taktik und Diskussionen über veränderte Regeln sorgten für viel Gesprächsstoff im Neckarstadion und in den Sozialen Medien. Aber es wurde über das diskutiert, um was es eigentlich immer gehen sollte: Den Fußball. Doch fangen wir von vorne an.
Wie vor jedem ersten Heimspiel der Saison organisierteauch dieses Jahr wieder das Commando Cannstatt die Karawane vom Bahnhof Bad Cannstatt zum Stadion. Und auch dieses Jahr liefen wieder Tausende mit. “Alle in weiß” lautete das traditionelle Motto, dem die knapp 6500 nur allzu gerne Folge leisteten. So waren die Stimmen schon vor dem Anpfiff gut geölt — und das war auch praktisch, denn sie würden gebraucht werden.

Die erste Halbzeit
Hannover kam besser in die Partie und hatte gleich nach 2 Minuten die erste große Chance, als Kobel nach einem Schuss von Prib aus kurzer Distanz zur Ecke klärte. Im gleichen Duell nur drei Minuten später setzte Prib einen Freistoß aus etwas mehr als 20 Metern knapp neben das Tor. Doch danach wendete sich das Blatt, der VfB kam rein in die Partie und zeigte lange Ballbesitzphasen, die zwar dank mitspielendem Torwart Kobel manchem Haupttribünenbruddler den Schweiß auf die Stirn trieben, aber dennoch sehr überzeugend vorgetragen wurden. Überhaupt, überzeugend: Der gesamte Auftritt des VfB war von absolutem Selbstbewusstsein geprägt. Coach Tim Walter hatte seinen Spielern den Glauben an sich selbst eingeimpft. Einen Glauben, den man über die gesamten 90 Minuten und darüber hinaus auch in den Interviews sehr gut sehen konnte.
Spieler wie Didavi, Gomez und Castro wirkten wie ausgewechselt, ein zu Beginn der letzten Saison vor Nervosität fast verloren wirkender Borna Sosa spielten, als wären sie nie abgestiegen und versprühten eine Spielfreude, die ich so in den letzten Jahren nie beim VfB gesehen hatte. Ausgerechnet Sosa war es dann auch, der mit einer punktgenauen Flanke auf Gomez’ Fuß das 1:0 in der 29. Minute vorbereitete. Vorausgegangen war eine starke Phase des VfB mit einzelnen Schwierigkeiten, sich hinten heraus zu spielen, vor allem in den ersten fünf Minuten und zwischen der 20. Minute und dem Führungstor.
Nach dem 1:0 aber sollte Hannover bis auf einzelne Torchancen nie wieder richtigen Zugriff aufs Spiel bekommen. Auch nicht, als Marcin Kaminski in der 35. Minute ausgewechselt werden musste. Wie das MRT am Samstag zeigen sollte, mit einem Kreuzbandriss, der ihn vermutlich für sechs Monate ausfallen und Sven Mislintat nach Alternativen auf der Innenverteidiger-Position suchen lässt.
Für Kaminski kam Maxime Awoudja ins Spiel, doch bevor der sich einmischen konnte, gab es zunächst einen Freistoß aus 22 Metern für den VfB. Didavi lief an, schoss und traf! Der dritte direkte Freistoßtreffer in neun Jahren, wenn man den aus dem Relegations-Rückspiel nicht mitrechnet… — dank tatkräftiger Mithilfe von Ex-VfB-Keeper Ron Robert Zieler, der gegen den VfB eigentlich ein gutes Spiel machte, trotz der Tatsache, dass er von ein paar einzelnen Fans immer ausgepfiffen wurde, wenn er den Ball hatte.
Das war aber auch das einzige, was man an der Atmosphäre irgendwie bemängeln konnte. Denn sonst war das Stadion voll da. Laut, direkt und einfühlsam, als drei Minuten nach dem 2:0 von Didavi Maxime Awoudja mit einem unglücklichen Fehltritt den Ball ins eigene Tor beförderte. Keine 10 Sekunden nach dem Tor gab es aufmunternden Applaus aus dem ganzen Stadion für den Youngster, der sofort von Marc-Oliver Kempf vom Boden hochgezogen wurde. Und bevor es weiterging, gab es noch aufmunternde Gesten von Didavi und Gomez und dem Rest des Teams — eine Tatsache, die zeigt, wie der Zusammenhalt in der Mannschaft ist.
In die Pause ging es mit der 2:1 Führung und einem lobenden Applaus des Stuttgarter Publikums.
Die zweite Hälfte
Drei Tore in Halbzeit eins — so konnte es doch eigentlich weitergehen. Nichts da. Nachdem erstmal gar nichts ging, weil der Himmel seine Schleusen öffnete und das Neckarstadion fast als Floß den Neckar herunterschwemmte, ging es nach einer kurzen Verzögerung doch weiter.
Doch der immer nasser werdende Rasen bereitete beiden Teams ordentlich Probleme. Das eingeführte Kurzpassspiel von Tim Walter wurde bei den Bedingungen sehr schwierig, denn die Bugwelle vor dem Ball bremste ihn ordentlich ab. Dennoch kontrollierte der VfB das Spiel derart, dass Hannover in der zweiten Halbzeit quasi gar nicht mehr statt fand. Nachdem der VfB kurz nach Anpfiff der zweiten Hälfte noch zwei Chancen hatte, sollte fast zwanzig Minuten quasi gar nichts passieren. In der 64. Minute dann kassierte Matthias Ostrzolek nach einem heftigen Foul an Santiago Ascacibar seine zweite gelbe Karte und flog vom Platz. Doch dabei sollte es nicht bleiben…

In der 85. Minute sollte Brych zum zweiten Mal, nach einer unnötigen gelben Karte gegen Ascacibar wegen “Wegwerfens des Balls” in Halbzeit eins, daneben liegen: Er verteilte die gelb-rote Karte an den Unglücksraben Awoudja, der Gegenspieler Albornoz wohl nicht einmal berührt hatte. Foul zu pfeifen wäre eine diskutable Entscheidung gewesen. Aber gelb? Das war zuviel des Guten — und das sahen auch 50.000 VfB-Fans so, die mit lauten “Schieber”-Rufen zur Stelle waren und Awoudja bei seinem Abgang Standing Ovations und lauten Applaus, bis hin zum Abklatschen zweier Kinder vor dem Spielertunnel, gaben.
Insgesamt hatte der VfB im zweiten Durchgang noch fünf Großchancen, doch immer scheiterte der VfB entweder am letzten Gegenspieler oder an einem erstarkenden Zieler.
Fazit
Der VfB konnte mit seinem neuen Spielsystem vollends überzeugen. Vor allem, weil er einen letztlich fast ungefährdeten Sieg gegen einen Aufstiegskonkurrenten einfuhr, obwohl das Spielsystem ganz offensichtlich noch nicht vollständig perfektioniert war. Hier ist noch Luft nach oben.
Für mich persönlich war es absolut erfrischend, beim VfB ein System erkennen zu können. Die vielen Rochaden und Positionswechsel habe ich mit Spannung und Staunen verfolgt und obwohl ich kein Taktikexperte bin, habe ich mich doch dabei ertappt, wie ich beim Nachschauen des Spiels die Laufwege einzeln nachverfolgt habe. Besonders ist mir dabei ins Auge gesprungen, wie überzeugend das System funktioniert. Denn durch die vielen Rochaden war immer eine Anspielstation frei — und zwar zwingend! Dieses System funktioniert ganz offensichtlich unter folgenden Bedingungen:
1) Das Team braucht technisch starke Spieler und einen überzeugenden Spielmacher.
2) Die Spieler müssen daran glauben.
3) Die Spieler müssen unbedingt dazu bereit sein, viel zu laufen und passend dazu
4) Jeder muss nach hinten mitarbeiten.
Zu 1: Mit Atakan Karazor, Orel Mangala, auch Borna Sosa mit seinen Flanken, Mark-Oliver Kempf, sogar Santiago Ascacibar, mit Philip Klement und einigen mehr haben wir extrem spielstarke Spieler, die technisch auf hohem Niveau unterwegs sind und das leisten können. Eine Passquote von 88.7% bei 733 Ballkontakten (Hannover hatte 473!) beweist das. Mit Daniel Didavi haben wir einen Spielmacher, der perfekt für dieses System geeignet ist. Auf ihn werde ich noch sehr viel genauer eingehen.
Zu 2: Wie man offensichtlich gesehen hat, und wie auch jeder in den Interviews nach dem Spiel gesehen hat, glauben alle in der Mannschaft zu 100% an das neue System. Mit dem Sieg ist jetzt auch das Bewusstsein da, dass das nicht nur in Testspielen, sondern auch in der zweiten Liga funktionieren kann. Der VfB ist ein um 180° gedrehter Verein, wenn es darum geht, eine Philosophie zu haben. Ich habe mich selbst dabei ertappt, immer mehr auf die Taktik zu achten, habe mich im Vorfeld des Spiels über die Taktik Tim Walters informiert, mir ein bisschen was angelesen — etwas, auf das ich bei Korkut oder Weinzierl nicht mal annähernd auf die Idee gekommen wäre. Ich habe ein System erkannt! Das Gefühl hatte ich in den Jahren davor ehrlich gesagt nie.
Zu 3: Der VfB lief in der Begegnung 120km, ganze sieben mehr als Hannover. Das ist deutlich mehr als letzte Saison, in der der VfB nur 114 km im Durchschnitt marschierte. Daniel Didavi spulte 11.19 km ab, sogar ein Mario Gomez 10.71 und ein Santiago Ascacibar sogar unfassbare 12.71 km!
Und zu 4: Es haben alle nach hinten mitgearbeitet. Insbesondere die Laufleistungen von Didavi und Gomez beweisen das. Einen Mario Gomez habe ich vorher seltenst im eigenen Strafraum gesehen, jetzt holte er sich an der Strafraumgrenze die Bälle, sogar sein Antritt war in der zweiten Hälfte noch respektabel!
Auf der anderen Seite haben auch Spieler, die sonst nur selten nach vorne gehen, sich dort gezeigt: Santiago Ascacibar beispielsweise hatte 2 Torschüsse und erneut eine Großchance. Im Durchschnitt hatte er letzte Saison übrigens 0.5 Torschüsse pro Spiel, das Jahr davor sogar nur 0.3. Santi war kaum aufzuhalten, er musste 6 Mal regelwidrig gestoppt werden — Topwert! Er kassierte aber andererseits natürlich die obligatorische gelbe Karte, die schon fast zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden ist: Schiedsrichter wissen, dass er oft gelb bekommt und geben ihm dann schneller die gelbe, was dazu führt, dass der nächste Schiri noch mehr gelbe auf seinem Konto sieht und noch schneller die gelbe zieht. Eigentlich ein Unding, aber nur so ist zu erklären, wie er für normale Fouls und Zweikämpfe immer so schnell gelbe Karten sehen kann.
Der Spieler des Spiels
Spieler des Spiels war für mich kein Atakan Karazor, obwohl der ordentlich rasiert hat. Auch kein Mario Gomez, der den VfB in Führung schoss. Sondern Daniel Didavi.
Didavi zeigte im ersten Spiel all das, was eigentlich schon letztes Jahr von ihm erwartet worden war. Er war überall auf dem Platz, verteilte die Bälle, zeigte Ruhe und Übersicht, hatte selbst tolle Aktionen dabei, traf sogar selbst mit einem sehenswerten Freistoßtor (danke an Ron-Robert Zieler) und spielte mit vollem Einsatz. Nach einem Abschlag von Kobel holte er den Ball mit einem Seitfallzieher ins Spiel zurück und zwar so, dass der VfB im Angriff blieb — nicht nur dafür wurde er von den Fans gefeiert. Er selbst sagte nach dem Spiel gegenüber VfB TV, er habe im Spiel “10 Liter Wasser verloren” und er hatte ordentlich Probleme bei der Dopingkontrolle. Voll des Lobes war er für den neuen Trainer: Er habe Walter “viel zu verdanken”, letzte Saison habe er “den Spaß verloren”, und der Trainer “wusste, wie er mich anpacken muss, er hat mir in der Vorbereitung die Spielfreude zurück gegeben.” Sein Lob beschränkte sich aber nicht auf Trainer Walter, auch für Mislintat und Hitzlsperger hatte er warme Worte übrig: “Ich muss den Verantwortlichen ein großes Kompliment machen; kicken können ja eh alle [Neuzugänge], aber vor allem auch charakterlich waren das super Transfers”.
Und so bleibt mir nur zu sagen, was für eine Freude es ist, diesem VfB beim Spielen zuzuschauen. Ja, das wird ganz sicher auch mal schief gehen, aber es ist einfach schön, mal einen systematisch vorgehenden VfB zu sehen, der offensiven Fußball spielt und bei dem ganz offensichtlich alle, Spieler, Trainer und Fans, Lust darauf haben.