Endlich wieder “nur Fußball” beim VfB Stuttgart

Es war ein Fuß­ball­abend, wie man ihn beim VfB schon lan­ge nicht mehr gese­hen hat­te. Ohne Ver­eins­po­li­tik, ohne Dif­fa­mie­run­gen, ohne “Diet­rich Raus” und mit ganz viel schö­nem Fuß­ball.

Bei der Sai­son­er­öff­nung der zwei­ten Liga lief trotz eines über wei­te Stre­cken unge­fähr­de­ten 2:1‑Sieges längst nicht alles per­fekt beim VfB Stutt­gart. Eine höchst umstrit­te­ne Schieds­rich­ter-Leis­tung, ein miss­glück­tes Pflicht­spiel-Debüt, eine gänz­lich neue Tak­tik und Dis­kus­sio­nen über ver­än­der­te Regeln sorg­ten für viel Gesprächs­stoff im Neckar­sta­di­on und in den Sozia­len Medi­en. Aber es wur­de über das dis­ku­tiert, um was es eigent­lich immer gehen soll­te: Den Fuß­ball. Doch fan­gen wir von vor­ne an.

Wie vor jedem ers­ten Heim­spiel der Sai­son orga­ni­sier­teauch die­ses Jahr wie­der das Com­man­do Cannstatt die Kara­wa­ne vom Bahn­hof Bad Cannstatt zum Sta­di­on. Und auch die­ses Jahr lie­fen wie­der Tau­sen­de mit. “Alle in weiß” lau­te­te das tra­di­tio­nel­le Mot­to, dem die knapp 6500 nur all­zu ger­ne Fol­ge leis­te­ten. So waren die Stim­men schon vor dem Anpfiff gut geölt — und das war auch prak­tisch, denn sie wür­den gebraucht wer­den.

Die Kara­wa­ne Cannstatt vor dem Spiel gegen Han­no­ver 96. Quel­le: Bongarts/Getty

Die erste Halbzeit

Han­no­ver kam bes­ser in die Par­tie und hat­te gleich nach 2 Minu­ten die ers­te gro­ße Chan­ce, als Kobel nach einem Schuss von Prib aus kur­zer Distanz zur Ecke klär­te. Im glei­chen Duell nur drei Minu­ten spä­ter setz­te Prib einen Frei­stoß aus etwas mehr als 20 Metern knapp neben das Tor. Doch danach wen­de­te sich das Blatt, der VfB kam rein in die Par­tie und zeig­te lan­ge Ball­be­sitz­pha­sen, die zwar dank mit­spie­len­dem Tor­wart Kobel man­chem Haupt­tri­bü­nen­brudd­ler den Schweiß auf die Stirn trie­ben, aber den­noch sehr über­zeu­gend vor­ge­tra­gen wur­den. Über­haupt, über­zeu­gend: Der gesam­te Auf­tritt des VfB war von abso­lu­tem Selbst­be­wusst­sein geprägt. Coach Tim Wal­ter hat­te sei­nen Spie­lern den Glau­ben an sich selbst ein­ge­impft. Einen Glau­ben, den man über die gesam­ten 90 Minu­ten und dar­über hin­aus auch in den Inter­views sehr gut sehen konn­te.

Spie­ler wie Dida­vi, Gomez und Cas­tro wirk­ten wie aus­ge­wech­selt, ein zu Beginn der letz­ten Sai­son vor Ner­vo­si­tät fast ver­lo­ren wir­ken­der Bor­na Sosa spiel­ten, als wären sie nie abge­stie­gen und ver­sprüh­ten eine Spiel­freu­de, die ich so in den letz­ten Jah­ren nie beim VfB gese­hen hat­te. Aus­ge­rech­net Sosa war es dann auch, der mit einer punkt­ge­nau­en Flan­ke auf Gomez’ Fuß das 1:0 in der 29. Minu­te vor­be­rei­te­te. Vor­aus­ge­gan­gen war eine star­ke Pha­se des VfB mit ein­zel­nen Schwie­rig­kei­ten, sich hin­ten her­aus zu spie­len, vor allem in den ers­ten fünf Minu­ten und zwi­schen der 20. Minu­te und dem Füh­rungs­tor.

Nach dem 1:0 aber soll­te Han­no­ver bis auf ein­zel­ne Tor­chan­cen nie wie­der rich­ti­gen Zugriff aufs Spiel bekom­men. Auch nicht, als Mar­cin Kamin­ski in der 35. Minu­te aus­ge­wech­selt wer­den muss­te. Wie das MRT am Sams­tag zei­gen soll­te, mit einem Kreuz­band­riss, der ihn ver­mut­lich für sechs Mona­te aus­fal­len und Sven Mislin­tat nach Alter­na­ti­ven auf der Innen­ver­tei­di­ger-Posi­ti­on suchen lässt.

Für Kamin­ski kam Maxi­me Awoud­ja ins Spiel, doch bevor der sich ein­mi­schen konn­te, gab es zunächst einen Frei­stoß aus 22 Metern für den VfB. Dida­vi lief an, schoss und traf! Der drit­te direk­te Frei­stoß­tref­fer in neun Jah­ren, wenn man den aus dem Rele­ga­ti­ons-Rück­spiel nicht mit­rech­net… — dank tat­kräf­ti­ger Mit­hil­fe von Ex-VfB-Kee­per Ron Robert Zie­l­er, der gegen den VfB eigent­lich ein gutes Spiel mach­te, trotz der Tat­sa­che, dass er von ein paar ein­zel­nen Fans immer aus­ge­pfif­fen wur­de, wenn er den Ball hat­te.

Das war aber auch das ein­zi­ge, was man an der Atmo­sphä­re irgend­wie bemän­geln konn­te. Denn sonst war das Sta­di­on voll da. Laut, direkt und ein­fühl­sam, als drei Minu­ten nach dem 2:0 von Dida­vi Maxi­me Awoud­ja mit einem unglück­li­chen Fehl­tritt den Ball ins eige­ne Tor beför­der­te. Kei­ne 10 Sekun­den nach dem Tor gab es auf­mun­tern­den Applaus aus dem gan­zen Sta­di­on für den Youngs­ter, der sofort von Marc-Oli­ver Kempf vom Boden hoch­ge­zo­gen wur­de. Und bevor es wei­ter­ging, gab es noch auf­mun­tern­de Ges­ten von Dida­vi und Gomez und dem Rest des Teams — eine Tat­sa­che, die zeigt, wie der Zusam­men­halt in der Mann­schaft ist.

In die Pau­se ging es mit der 2:1 Füh­rung und einem loben­den Applaus des Stutt­gar­ter Publi­kums.

Die zweite Hälfte

Drei Tore in Halb­zeit eins — so konn­te es doch eigent­lich wei­ter­ge­hen. Nichts da. Nach­dem erst­mal gar nichts ging, weil der Him­mel sei­ne Schleu­sen öff­ne­te und das Neckar­sta­di­on fast als Floß den Neckar her­un­ter­schwemm­te, ging es nach einer kur­zen Ver­zö­ge­rung doch wei­ter.

Doch der immer nas­ser wer­den­de Rasen berei­te­te bei­den Teams ordent­lich Pro­ble­me. Das ein­ge­führ­te Kurz­pass­spiel von Tim Wal­ter wur­de bei den Bedin­gun­gen sehr schwie­rig, denn die Bug­wel­le vor dem Ball brems­te ihn ordent­lich ab. Den­noch kon­trol­lier­te der VfB das Spiel der­art, dass Han­no­ver in der zwei­ten Halb­zeit qua­si gar nicht mehr statt fand. Nach­dem der VfB kurz nach Anpfiff der zwei­ten Hälf­te noch zwei Chan­cen hat­te, soll­te fast zwan­zig Minu­ten qua­si gar nichts pas­sie­ren. In der 64. Minu­te dann kas­sier­te Mat­thi­as Ost­rzo­lek nach einem hef­ti­gen Foul an Sant­ia­go Asca­ci­bar sei­ne zwei­te gel­be Kar­te und flog vom Platz. Doch dabei soll­te es nicht blei­ben…

Schieds­rich­ter Dr. Felix Brych Quel­le: Bongarts/Getty

In der 85. Minu­te soll­te Brych zum zwei­ten Mal, nach einer unnö­ti­gen gel­ben Kar­te gegen Asca­ci­bar wegen “Weg­wer­fens des Balls” in Halb­zeit eins, dane­ben lie­gen: Er ver­teil­te die gelb-rote Kar­te an den Unglücks­ra­ben Awoud­ja, der Gegen­spie­ler Albor­noz wohl nicht ein­mal berührt hat­te. Foul zu pfei­fen wäre eine dis­ku­ta­ble Ent­schei­dung gewe­sen. Aber gelb? Das war zuviel des Guten — und das sahen auch 50.000 VfB-Fans so, die mit lau­ten “Schieber”-Rufen zur Stel­le waren und Awoud­ja bei sei­nem Abgang Stan­ding Ova­tions und lau­ten Applaus, bis hin zum Abklat­schen zwei­er Kin­der vor dem Spie­ler­tun­nel, gaben.

Ins­ge­samt hat­te der VfB im zwei­ten Durch­gang noch fünf Groß­chan­cen, doch immer schei­ter­te der VfB ent­we­der am letz­ten Gegen­spie­ler oder an einem erstar­ken­den Zie­l­er.

Fazit

Der VfB konn­te mit sei­nem neu­en Spiel­sys­tem voll­ends über­zeu­gen. Vor allem, weil er einen letzt­lich fast unge­fähr­de­ten Sieg gegen einen Auf­stiegs­kon­kur­ren­ten ein­fuhr, obwohl das Spiel­sys­tem ganz offen­sicht­lich noch nicht voll­stän­dig per­fek­tio­niert war. Hier ist noch Luft nach oben.

Für mich per­sön­lich war es abso­lut erfri­schend, beim VfB ein Sys­tem erken­nen zu kön­nen. Die vie­len Rocha­den und Posi­ti­ons­wech­sel habe ich mit Span­nung und Stau­nen ver­folgt und obwohl ich kein Tak­tik­ex­per­te bin, habe ich mich doch dabei ertappt, wie ich beim Nach­schau­en des Spiels die Lauf­we­ge ein­zeln nach­ver­folgt habe. Beson­ders ist mir dabei ins Auge gesprun­gen, wie über­zeu­gend das Sys­tem funk­tio­niert. Denn durch die vie­len Rocha­den war immer eine Anspiel­sta­ti­on frei — und zwar zwin­gend! Die­ses Sys­tem funk­tio­niert ganz offen­sicht­lich unter fol­gen­den Bedin­gun­gen:

1) Das Team braucht tech­nisch star­ke Spie­ler und einen über­zeu­gen­den Spiel­ma­cher.

2) Die Spie­ler müs­sen dar­an glau­ben.

3) Die Spie­ler müs­sen unbe­dingt dazu bereit sein, viel zu lau­fen und pas­send dazu

4) Jeder muss nach hin­ten mit­ar­bei­ten.

Zu 1: Mit Ata­kan Kara­zor, Orel Manga­la, auch Bor­na Sosa mit sei­nen Flan­ken, Mark-Oli­ver Kempf, sogar Sant­ia­go Asca­ci­bar, mit Phil­ip Kle­ment und eini­gen mehr haben wir extrem spiel­star­ke Spie­ler, die tech­nisch auf hohem Niveau unter­wegs sind und das leis­ten kön­nen. Eine Pass­quo­te von 88.7% bei 733 Ball­kon­tak­ten (Han­no­ver hat­te 473!) beweist das. Mit Dani­el Dida­vi haben wir einen Spiel­ma­cher, der per­fekt für die­ses Sys­tem geeig­net ist. Auf ihn wer­de ich noch sehr viel genau­er ein­ge­hen.

Zu 2: Wie man offen­sicht­lich gese­hen hat, und wie auch jeder in den Inter­views nach dem Spiel gese­hen hat, glau­ben alle in der Mann­schaft zu 100% an das neue Sys­tem. Mit dem Sieg ist jetzt auch das Bewusst­sein da, dass das nicht nur in Test­spie­len, son­dern auch in der zwei­ten Liga funk­tio­nie­ren kann. Der VfB ist ein um 180° gedreh­ter Ver­ein, wenn es dar­um geht, eine Phi­lo­so­phie zu haben. Ich habe mich selbst dabei ertappt, immer mehr auf die Tak­tik zu ach­ten, habe mich im Vor­feld des Spiels über die Tak­tik Tim Wal­ters infor­miert, mir ein biss­chen was ange­le­sen — etwas, auf das ich bei Korkut oder Wein­zierl nicht mal annä­hernd auf die Idee gekom­men wäre. Ich habe ein Sys­tem erkannt! Das Gefühl hat­te ich in den Jah­ren davor ehr­lich gesagt nie.

Zu 3: Der VfB lief in der Begeg­nung 120km, gan­ze sie­ben mehr als Han­no­ver. Das ist deut­lich mehr als letz­te Sai­son, in der der VfB nur 114 km im Durch­schnitt mar­schier­te. Dani­el Dida­vi spul­te 11.19 km ab, sogar ein Mario Gomez 10.71 und ein Sant­ia­go Asca­ci­bar sogar unfass­ba­re 12.71 km!

Und zu 4: Es haben alle nach hin­ten mit­ge­ar­bei­tet. Ins­be­son­de­re die Lauf­leis­tun­gen von Dida­vi und Gomez bewei­sen das. Einen Mario Gomez habe ich vor­her sel­tenst im eige­nen Straf­raum gese­hen, jetzt hol­te er sich an der Straf­raum­gren­ze die Bäl­le, sogar sein Antritt war in der zwei­ten Hälf­te noch respek­ta­bel!

Auf der ande­ren Sei­te haben auch Spie­ler, die sonst nur sel­ten nach vor­ne gehen, sich dort gezeigt: Sant­ia­go Asca­ci­bar bei­spiels­wei­se hat­te 2 Tor­schüs­se und erneut eine Groß­chan­ce. Im Durch­schnitt hat­te er letz­te Sai­son übri­gens 0.5 Tor­schüs­se pro Spiel, das Jahr davor sogar nur 0.3. San­ti war kaum auf­zu­hal­ten, er muss­te 6 Mal regel­wid­rig gestoppt wer­den — Top­wert! Er kas­sier­te aber ande­rer­seits natür­lich die obli­ga­to­ri­sche gel­be Kar­te, die schon fast zur selbst­er­fül­len­den Pro­phe­zei­ung gewor­den ist: Schieds­rich­ter wis­sen, dass er oft gelb bekommt und geben ihm dann schnel­ler die gel­be, was dazu führt, dass der nächs­te Schi­ri noch mehr gel­be auf sei­nem Kon­to sieht und noch schnel­ler die gel­be zieht. Eigent­lich ein Unding, aber nur so ist zu erklä­ren, wie er für nor­ma­le Fouls und Zwei­kämp­fe immer so schnell gel­be Kar­ten sehen kann.

Der Spieler des Spiels

Spie­ler des Spiels war für mich kein Ata­kan Kara­zor, obwohl der ordent­lich rasiert hat. Auch kein Mario Gomez, der den VfB in Füh­rung schoss. Son­dern Dani­el Dida­vi.

Dida­vi zeig­te im ers­ten Spiel all das, was eigent­lich schon letz­tes Jahr von ihm erwar­tet wor­den war. Er war über­all auf dem Platz, ver­teil­te die Bäl­le, zeig­te Ruhe und Über­sicht, hat­te selbst tol­le Aktio­nen dabei, traf sogar selbst mit einem sehens­wer­ten Frei­stoß­tor (dan­ke an Ron-Robert Zie­l­er) und spiel­te mit vol­lem Ein­satz. Nach einem Abschlag von Kobel hol­te er den Ball mit einem Seit­fall­zie­her ins Spiel zurück und zwar so, dass der VfB im Angriff blieb — nicht nur dafür wur­de er von den Fans gefei­ert. Er selbst sag­te nach dem Spiel gegen­über VfB TV, er habe im Spiel “10 Liter Was­ser ver­lo­ren” und er hat­te ordent­lich Pro­ble­me bei der Doping­kon­trol­le. Voll des Lobes war er für den neu­en Trai­ner: Er habe Wal­ter “viel zu ver­dan­ken”, letz­te Sai­son habe er “den Spaß ver­lo­ren”, und der Trai­ner “wuss­te, wie er mich anpa­cken muss, er hat mir in der Vor­be­rei­tung die Spiel­freu­de zurück gege­ben.” Sein Lob beschränk­te sich aber nicht auf Trai­ner Wal­ter, auch für Mislin­tat und Hitzl­sper­ger hat­te er war­me Wor­te übrig: “Ich muss den Ver­ant­wort­li­chen ein gro­ßes Kom­pli­ment machen; kicken kön­nen ja eh alle [Neu­zu­gän­ge], aber vor allem auch cha­rak­ter­lich waren das super Trans­fers”.

Und so bleibt mir nur zu sagen, was für eine Freu­de es ist, die­sem VfB beim Spie­len zuzu­schau­en. Ja, das wird ganz sicher auch mal schief gehen, aber es ist ein­fach schön, mal einen sys­te­ma­tisch vor­ge­hen­den VfB zu sehen, der offen­si­ven Fuß­ball spielt und bei dem ganz offen­sicht­lich alle, Spie­ler, Trai­ner und Fans, Lust dar­auf haben.

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