Der neue Trainer baut den VfB und dessen Spielsystem um und überzeugt damit auf ganzer Linie — er nutzt die Vorteile des VfB effektiv aus.
Tabellendritter gegen Tabellenvierter, Flutlicht, 53.000 Zuschauer in der Mercedes-Benz-Arena. Was stimmt nicht? Es ist nicht Freitag‑, Samstag- oder Sonntagabend, sondern 18:30 an einem Mittwoch. Trotzdem machen sich wieder Massen auf den Weg nach Bad Cannstatt, um dem VfB zuzuschauen. Der neue Trainer Pellegrino Matarazzo feiert dabei einen Einstand nach Maß, sein Team besiegt den FC Heidenheim verdient mit 3:0. Er und die Mannschaft überzeugen mit der Vorgabe “Chancen kreieren” statt “Ballbesitzfußball”, was am Ende zu 5:1 Großchancen und 2.6 zu 0.8 expected goals führt. Doch von Anfang an:
Das Spiel beginnt in aller Stille, ganz ungewohnt für eine Partie im Neckarstadion. Die Ultras beider Seiten gedenken in der ersten Minute dem verstorbenen SKS-Mitglied “Ossi”, und die Mannschaften spielen mit, denn in der Anfangsphase der Partie passiert tatsächlich wenig, was das Stadion zum Kochen bringen würde. Doch nach kurzer Eingewöhnungsphase überzeugte der VfB mit einigen Chancen in der ersten Hälfte, wovon Kempf in der 32. Minute nach einem zweiten Flankenversuch von Didavi den Ball nach Abpraller einnetzte. Dass bei dem Tor ein wenig Glück dabei war, mag sein, doch der VfB sorgte nach vorne für einiges Aufsehen und bei den etlichen Gestochern im gegnerischen Strafraum musste einer irgendwann über die Linie gehen.
In Durchgang zwei spielte Heidenheim zunächst deutlich stärker, der VfB sah sich mehrfach gefährlichen Kontern ausgesetzt, die aber Heidenheim entweder nicht verwerten konnte, weil spielerische Fehler auftraten, weil sie den Ball neben das Tor setzten, oder weil ein VfB’ler in letzter Sekunde den Fuß an den Ball bekam. Die Ballverlustphase, die der Coach trainieren wollte, schien extrem verbessert gegenüber den letzten Spielen unter Tim Walter. Die Angst vor einem Gegentreffer war nicht mehr bei jedem Angriff so groß, denn ein einzelner individueller Fehler führte anders als unter Walter nicht zur sofortigen 1:1‑Situation Stürmer gegen Towart…
Spätestens nach 25 Minuten in der zweiten Halbzeit machte der VfB aber wieder ernst und die Herren von der Ostalb kamen zu immer weniger Chancen, wohingegen der VfB sich mehr und mehr in der gegnerischen Hälfte festsetzte und zwangsläufig führte nach Einwechslung von Sosa dessen Flanke auf Gonzalez (76.) dann zum Torerfolg, noch gekrönt vom 3:0 durch den anderen Joker, Mario Gomez, der noch schnell zwei Gegenspieler aussteigen ließ, bevor er den Ball lässig ins Tor schob. Nach dem Spiel ließen sich die Spieler gebührend feiern, und auch der Trainer Matarazzo stand ein paar Meter hinter der Mannschaft und saugte die Stimmung aus der Cannstatter Kurve auf.
Doch was hatte sich verändert gegenüber Walter?
Defensiv variierte der VfB sein Spielsystem je nach Ballbesitz — im eigenen Angriff spielte er mit Dreierkette und einem davor agierenden Kempf, der die beiden recht vertikal aufgestellten Sechser unterstützte und in der Verteidigung mit Viererkette und Karazor in der Innenverteidigung, was dieser sehr gut löste.
Die größte Veränderung war aber die Spielidee. Der VfB wollte immer noch dominieren — ihm blieb auch gegen Heidenheim, die eigentlich nur einen Punkt hinter dem VfB lagen, gar nichts anderes übrig -, doch nicht durch lange Ballstaffetten quer und zurück zum Torwart, sondern indem die gegnerische Defensive mit viel Zug zum Tor unter Druck gesetzt werden sollte. “Eckle” schienen die VfB-Profis zuhauf geübt haben. Worauf Matarazzo wohl setzte: Dass in den offensiven Situationen seiner Mannschaft die individuelle Qualität gewinnen würde.
Aber genau das ist der Trick: Unter Walter wurde eben nicht ausgenutzt, dass der VfB spielerisch besser ist als fast alle anderen Teams in der zweiten Liga. Sein System hatte er auch schon mit Kiel gespielt und das recht erfolgreich. Gegen tief stehende Gegner ging es aber viel zu selten auf. Matarazzo macht das sehr klug: Denn anstatt ein bestehendes System zu nutzen und darauf auf Biegen und Brechen zu setzen, hat er die Vor- und Nachteile des “VfB-Seins” besser analyisert.
Wie ist das gemeint?
Nun, der VfB hat einen entscheidenden Nachteil gegenüber allen anderen Teams in der zweiten Liga, mit Ausnahme vielleicht des HSV, aber ohne Bielefeld: Die Gegner stellen sich hinten rein. Ein Unentschieden gegen den VfB, ein 0:0, reicht fast allen Gegner, sodass die erstmal nicht viel machen. Wenn man jetzt hintenrum spielt, interessiert das die meisten nicht wirklich.
Der VfB hat aber einen Vorteil, den Walter selten genutzt hat: Die individuelle Klasse ist höher, teilweise deutlich, gegenüber seinen Gegnern. Matarazzo nutzt das schamlos aus, indem er schnell nach vorne spielen lässt und durch schnelle Pässe und einige erzwungene 1:1‑Situationen diese individuelle Klasse ausspielt. Nach einem Aufstieg müsste das System natürlich umgestellt werden, denn da gelten die beiden angesprochenen Prämissen (Gegner stellen sich hinten rein und sind individuell schwächer) natürlich nicht mehr. Für die zweite Liga ist es aber ein — in meinen Augen — überzeugender Matchplan. Gegner haben zwei Möglichkeiten: Sich nicht hinten rein stellen und mitspielen, was sehr gefährlich ist, oder weiterhin auf Konter lauern, was gegen die um Welten verbesserte Absicherung des VfB nach hinten aber deutlich schwieriger wird.
Bis jetzt hat mich Matarazzo vollends überzeugt. Warten wir ab, was die nächsten Spiele bringen. Ich bin sehr gespannt!