Der große Bogen

VfB-Tak­tik­ex­per­te Jonas Bischof­ber­ger gibt mit sei­nem Buch “Sys­tem Weiß-Rot” einen Über­blick über die Arbeit von 14 VfB-Trai­nern in den letz­ten zehn Jah­ren, von Lab­ba­dia bis Mat­a­raz­zo. Span­nend ist dabei auch der Kon­text, in den er die Ent­wick­lun­gen im tak­ti­schen Bereich setzt.

Vor­ab, bevor Ihr die­se Rezen­si­on lest: Kauft die­ses Buch. War­um? Weil ihr wisst, dass Jonas es genau­so gut gemacht hat wie sei­ne Tak­ti­k­ana­ly­sen im Pod­cast Pod­cannstatt und davor auf VfBtaktisch.de. Weil Jonas vier Jah­re sei­nes Lebens in die­ses Buch inves­tiert hat und das ohne die Unter­stüt­zung — aber auch ohne die Ein­schrän­kun­gen — eines Ver­lags. Und weil Jonas vom Ergeb­nis die­ser vier Jah­re Arbeit nicht einen Cent sieht, son­dern die Erlö­se des Ver­kaufs an die Welt­hun­ger­hil­fe spen­det. Im Eng­li­schen nennt man das labor of love. Ihr braucht noch mehr Argu­men­te? Nun gut.

Gut erklärt

Ich schrei­be zwar mitt­ler­wei­le seit sie­ben Jah­ren über den VfB und inter­es­sie­re mich noch viel län­ger für Fuß­ball, ich muss aber geste­hen: Der Blick fürs Tak­ti­sche, also für For­ma­tio­nen und Ver­hal­tens­wei­sen auf dem Platz fehlt mir immer noch häu­fig. Ich krie­ge auch bis­wei­len Kopf­brum­men, wenn ich zu viel von Abkip­pen, Ein­rü­cken und Durch­schie­ben  lese, auch wenn ich mir in den letz­ten Jah­ren ein gewis­ses Halb­wis­sen erar­bei­tet habe. Ich habe übri­gens auch nur wenig Ahnung von Kunst­theo­rie und nach drei oder vier ‑ismen ver­lie­re ich den Über­blick über die Bedeu­tung. Ob Fuß­ball oder Kunst: Ich neh­me eher wahr, was ich sehe und nicht die dahin­ter­ste­hen­den Zusam­men­hän­ge. Es sei denn, ich krie­ge es rich­tig gut erklärt. Neu­lich sah ich eine Arte-Doku über Mar­cel Duch­amps und war hin­ter­her schlau­er.

Und dann las ich die Tage “Sys­tem Weiß-Rot” von Jonas Bischof­ber­ger und es ging mir genau­so. Auch wenn ich man­chen Satz zwei­mal lesen muss­te: Die Zusam­men­hän­ge wur­den deut­li­cher, man­che Mei­nung wur­de infra­ge gestellt, ande­re bestä­tigt.

Ein Über­blick über die ver­schie­de­nen tak­ti­schen Knif­fe, mit denen Bru­no Lab­ba­dia, Tho­mas Schnei­der, Huub Ste­vens, Armin Veh, wie­der Huub Ste­vens, Alex­an­der Zor­ni­ger, Jür­gen Kra­my, Jos Luhuk­ay, Olaf Jan­ßen, Han­nes Wolf, Tay­fun Korkut, Mar­kus Wein­zierl, Nico Wil­lig, Tim Wal­ter und Pel­le­gri­no Mat­a­raz­zo in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren ver­such­ten, den VfB zum Erfolg zu füh­ren, ist nicht nur wie bereits erwähnt eine Auf­ga­be, der sich Jonas vol­ler Hin­ga­be in den letz­ten vier Jah­ren gewid­met hat, es ist vor allem ein Mam­mut­pro­jekt. Eine noch grö­ße­re Her­aus­for­de­rung ist es, aus dem ver­meint­li­chen Cha­os, das den VfB nach 2013 erfass­te, eine Ent­wick­lung her­aus­zu­ge­ben und doch gelingt es Jonas, über­zeu­gend dar­zu­le­gen, war­um die aktu­el­le sport­li­che Aus­rich­tung das bes­te aus zwei Wel­ten ver­eint. Mit­un­ter wird es dabei gera­de­zu weit­schwei­fend, um die Ent­wick­lung des VfB nach­zu­zeich­nen nimmt Jonas Anlei­hen bei Sozio­lo­gie und Phi­lo­so­phie.

Von weiß zu rot zu weiß-rot

Die Grund­an­nah­me des Buches basiert auf drei ver­schie­de­nen Sys­te­men, die Zäsur, die zum Sys­tem­wech­sel führt, ist jeweils der Abstieg. Grob umschrie­ben ist die Zeit von 2013 bis 2016 die Zeit des Sys­tem Rot: Emo­tio­nal, getrie­ben von Kampf­geist, aber auch von Krea­ti­vi­tät. Es folgt mit dem Abstieg und der Instal­la­ti­on von Jan Schin­del­mei­ser und Han­nes Wolf die Pha­se des Sys­tem Weiß: Ana­ly­tisch, getrie­ben von Daten und Tak­tik­dis­kus­sio­nen, aber unterm Strich der zwei­te Abstieg. Die Amts­zeit von Sven Mislin­tat und spä­ter Pel­le­gri­no Mat­a­raz­zo lei­tet dann die Pha­se der Sym­bio­se bei­der Sys­te­me ein: Ana­ly­se mit Aben­teu­er. Dass Jonas von der aktu­el­len sport­li­chen Füh­rung eine hohe Mei­nung hat, wird deut­lich, aber auch gut begrün­det. 

Es wäre jetzt müh­se­lig und wür­de Euch den Spaß des Lesens neh­men, jede tak­ti­sche Ent­wick­lung jedes Trai­ners hier zusam­men zu fas­sen. In der Zusam­men­schau wer­den aber drei Din­ge deut­lich: Je schlech­ter es lief, des­to hek­ti­scher wech­sel­ten die meis­ten Trai­ner der Ver­gan­gen­heit von Spiel zu Spiel nicht nur die Grund­for­ma­ti­on, son­dern auch die tak­ti­sche Aus­rich­tung — und zwar unab­hän­gig vom Geg­ner. Zwei­tens: Es ist unglaub­lich, wie vie­le Trai­ner der VfB in die­ser Deka­de ver­brannt hat und doch schien jeder ein grund­sätz­lich sinn­vol­les tak­ti­sches Kon­zept und sich dabei etwas gedacht zu haben. Gleich­zei­tig litt aber schließ­lich fast jeder Trai­ner dar­un­ter Kom­pro­mis­se zwi­schen den ver­füg­ba­ren Spie­lern und den eige­nen tak­ti­schen Ideen schlie­ßen zu müs­sen. Pel­le­gri­no Mat­a­raz­zo tritt jetzt lang­sam in die Pha­se ein, in der er einen Kader zur Ver­fü­gung hat, der fast aus­schließ­lich nach sei­nen und den Vor­stel­lun­gen Sven Mislin­tats zusam­men­ge­stellt ist, sieht man mal von kol­por­tier­ten unter­schied­li­chen Ansich­ten über die Wei­ter­be­schäf­ti­gung von Gon­za­lo Cas­tro ab. So schei­ter­ten vie­le Trai­ner dar­an, dass sie für ihr bevor­zug­tes Sys­tem nicht die opti­ma­len Spie­ler zur Ver­fü­gung hat­ten oder die­se das Sys­tem man­gel­haft umsetz­ten.

Interessante Erkenntnisse

Dezi­diert zeigt Jonas in sei­nem Buch Stär­ken und Schwä­chen der jewei­li­gen tak­ti­schen Aus­rich­tung auf und erklärt das Schei­tern der Vor­gän­ger Mat­a­raz­zos. Teil­wei­se wird dabei zumin­dest mei­ne lai­en­haf­te Wahr­neh­mung bestä­tigt — Tim Wal­ters Zahn­lo­sig­keit gegen im Straf­raum gepark­te Bus­se, Huub Ste­vens bis­wei­len fata­le Fokus­sie­rung auf die Defen­si­ve — teil­wei­se nicht. So hat­te ich den Ein­druck, Tay­fun Korkut wol­le den Schwung der Freak-Rück­run­de 2017/2018 ein­fach mit in die neue Sai­son neh­men. In der Rea­li­tät ver­such­te er eine Wei­ter­ent­wick­lung, die auf­grund des ver­füg­ba­ren Per­so­nals furcht­bar schief ging  was wie­der­um mei­nen Ein­druck bestä­tigt, dass Micha­el Resch­ke im Som­mer 2018 eher für die Gale­rie ein­kauf­te als für sei­nen Trai­ner.  Gar­niert wird das gan­ze mit über 200 erläu­ter­ten und erläu­tern­den Gra­fi­ken von Spiel­sze­nen, die die jewei­li­ge tak­ti­sche Anpas­sung ver­deut­li­chen, für mei­nen Geschmack aber noch ein biss­chen grö­ßer oder kon­trast­rei­cher sein könn­ten. Zwi­schen den ein­zel­nen Kapi­teln, die nach Trai­nern und Sai­sons sor­tiert sind, fin­den sich immer wie­der Exkur­se zu ein­zel­nen, prä­gen­den Spie­lern. Und kein ande­rer Spie­ler schwebt der­art omni­prä­sent über die­ser Zeit wie Chris­ti­an Gent­ner, der mei­ner Mei­nung nach sei­ne Rol­le nur ganz sel­ten fand. Es war nicht die die des erfah­re­nen Stra­te­gen mit der Bin­de am Arm, son­dern die des mit Herz­blut nach vor­ne stür­men­den offen­si­ven Mit­tel­feld­spie­lers. Oder wie Jonas es for­mu­liert: “Gent­ners Auf­ga­ben als Füh­rungs­spie­ler pass­ten nicht zu sei­nem sport­li­chen Pro­fil.”

Um zum Abschluss die­ser Rezen­si­on noch ein­mal ein tages­ak­tu­el­les Bei­spiel auf­zu­grei­fen, wel­che neu­en Erkennt­nis­se mir die­ses Buch gebracht hat: Gegen Ende des Buches wird unter der Zwi­schen­über­schrift “Poten­tia­le Nut­zen” Nate Weiss zitiert, bis­lang Indi­vi­du­al­trai­ner für die U17, U19 und U21 und nach dem Abgang von Peter Perch­told zur öster­rei­chi­schen Natio­nal­mann­schaft Teil des Trai­ner­stabs von Pel­le­gri­no Mat­a­raz­zo. Die­ser Job­wech­sel über­rascht kei­nes­wegs, wenn man das Zitat liest, das ich hier in Aus­zü­gen wie­der­ge­ben möch­te:

“But you have to have some­thing that you can do on a world class level […] What can we do to your game to make that one litt­le thing big­ger?”

Es geht, kurz gesagt, um Poten­ti­al­trai­ning. Das wird beim VfB seit der Ankunft von Tho­mas Krü­cken im Nach­wuchs­be­reich prak­ti­ziert und Jonas spannt den Bogen zur Trans­fer­po­li­tik von Sven Mislin­tat. Dass der bei sei­nen Ver­pflich­tun­gen stets ein gewis­ses Ent­wick­lungs­po­ten­ti­al ein­preist und pro­gnos­ti­ziert, ist all­ge­mein bekannt. Die Ver­bin­dung zum Trai­nings­prin­zip im Nach­wuchs hat­te ich bis­lang nicht gezo­gen. Natür­lich hat auch das Sys­tem Weiß-Rot sei­ne Schwä­chen, denn es kom­bi­niert eine sta­bi­le mann­schafts­tak­ti­sche Leis­tung mit indi­vi­du­el­ler Klas­se. Wird die­se Klas­se, die­ses “some­thing you can do on a world class level” aus wel­chen Grün­den auch immer, nicht erreicht, gerät das Schiff der­art ins Schlin­gern wie in der gera­de abge­lau­fe­nen Sai­son. Neben dem Erkennt­nis­ge­winn steht die­se Pas­sa­ge aber exem­pla­risch für das titel­ge­ben­de Sys­tem Weiß-Rot: Indi­vi­du­el­le Stär­ken erken­nen und sys­te­ma­tisch för­dern, damit sie zum Mann­schafts­er­folg bei­tra­gen. Ich bin mir sicher: Auch Euch wird ein wenig der Kopf nach der Lek­tü­re brum­men. Aber wenn sich der Nebel ver­zo­gen hat, ist man ein gan­zes Stück schlau­er.

“Sys­tem Weiß-Rot: Eine Schatz­su­che mit dem VfB Stutt­gart” ist via Books on Demand erschie­nen und kos­tet als Taschen­buch 31,49 €, als PDF-Ver­si­on 8,99 €. Alle Erlö­se gehen wie gesagt an die Welt­hun­ger­hil­fe. Wir haben von Jonaes ein Rezen­si­ons­exem­plar erhal­ten. Wo Ihr das Buch kau­fen könnt lest ihr auf VfBtak­tisch.

Titel­bild: © Jonas Bischof­ber­ger, Illus­tra­ti­on von Gina Gül­lich

2 Gedanken zu „Der große Bogen“

  1. Mei­ne Mei­nung,
    die Tak­tik soll­te sich immer am Kader ori­en­tie­ren und die Trans­fers an der bevor­zug­ten Tak­tik 🙃
    Alles ande­re ist Münch­hau­sen 🙈 (Weinzierl/Reschke).

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