Der VfB beschließt das Jahr 2023 mit einem 3:0‑Heimsieg gegen Augsburg und ist dabei so dominant, dass dieser eigentlich höher hätte ausfallen müssen. Auswirkungen der Pleite in München vom Wochenende waren keine zu sehen.
Noch nie, erklärte Augsburgs Stürmer Ermedin Demirovic am Mittwochabend, sei er in einer Karriere so hergespielt worden wie in den vorangegangenen 90 Minuten vom VfB — nicht mal von den Bayern. Ja, herspielen ist das richtige Wort. Die Brustringträger ließen sich von der Enttäuschung der Punktverluste gegen Leverkusen und München nichts anmerken, sondern machten einfach da weiter, wo sie gegen in der ersten Halbzeit gegen die Bayer-Elf aufgehört hatten: Sie überzogen das Spielfeld und den Gegner mit Kombinationen, ließen den Ball und die Augsburger laufen und gingen verdient durch eine Ecke in Führung. Als ob die Reaktion auf München nicht schon eindrucksvoll genug gewesen wäre, zeigte die Mannschaft — natürlich unter gütiger Mithilfe überforderter Augsburger — nun auch noch Torgefährlichkeit nach Standards. Zumindest nach diesem einen. Und als sich die Halbzeit schon dem Ende zuneigte und ich mich drauf einstellte, das Serhou Guirassy die Partie in der 84. Minute durch einen Foulelfmeter entscheiden würde, da fing Deniz Undav den Abstoß von Finn Dahmen mit dem Kopf ab und legte den Ball in den Lauf seines Sturmpartners, der ihn zum 17. Saisontreffer im Tor unterbrachte.
Spätestens zur Halbzeit also war das komplette Neckarstadion in Feierlaune. Zurecht, denn welche Widerstandsfähigkeit die Mannschaft nach einem chancenlosen Auftritt beim Meister gegen eine zuletzt schwer bezwingbare Augsburger Mannschaft an den Tag legte, war atemberaubend. Diese Mannschaft scheint aktuell nichts aus der Bahn werfen zu können. Keine zwei Niederlagen am Stück, keine Verletzungen nichts. Hätte die Mannschaft nicht die Neigung, die einfachsten Torchancen liegen zu lassen und stattdessen lieber mit Pässen wie dem von Angelo Stiller auf Chris Führich vorm 3:0 zu zaubern, wäre dieses Spiel noch deutlicher ausgegangen. Es ist Weihnachten und beim VfB brennt’s! Diesmal aber nicht der Baum, sondern die Mannschaft, das Stadion, ja der ganze Verein, wenn man die Szenen vor der Cannstatter Kurve nach Schlusspfiff sieht.
Denn jeder Einzelne, ist der 1️⃣2️⃣. Mann! 🤍❤🤍
Und damit: Guten Morgen, liebe VfBler! 🙏#VfB | #VfBFCA 3:0 pic.twitter.com/Vyr55Untfv
— VfB Stuttgart (@VfB) December 21, 2023
Sebastian Hoeneß blieb auch in dem Moment, als er zum ersten Mal in dieser Saison von der Kurve gefordert wurde, ganz bei sich, kündigte an, die Mannschaft werde in jedem Spiel alles geben und dass er den Zaun erst besteigen würde “wenn wir etwas erreicht haben.” Das ist natürlich komplett richtig, selbst im Moment vorweihnachtlicher Hochstimmung, sollte niemand übermütig werden. Glücklich können wir uns aber durchaus schätzen, denn erreicht hat der VfB mit Sebastian Hoeneß eine ganze Menge. Und ich rede nicht nur von den elf Siegen in den ersten 16 Saisonspielen, die der VfB nie zuvor erreicht hat. Nein, aus einem Abstiegskandidaten mit Existenzängsten, der vor einem Jahr noch vom falschen Trainer angeleitet wurde, ist eine vor Kraft strotzende Mannschaft mit einem beseelten Umfeld geworden, der es endlich gelingt, in fast jedem Spiel an ihr Limit zu gehen. Mit einem Trainer der es versteht, das Potenzial, welches seit 2019 in der sportlichen Ausrichtung schlummert, zu heben.
Sebastian Hoeneß und Fabian Wohlgemuth haben sich als ihren Weihnachtsurlaub redlich verdient, gleichzeitig wartet in näherer Zukunft eine Menge Arbeit auf beide. Werden sich die Gegner in der Rückrunde auch so herspielen lassen wie es ihnen teilweise in der Hinrunde erging? Auffällig war gegen Augsburg, mit welchem Genuss, aber auch mit welcher Gemütlichkeit der VfB die Gäste auseinanderspielte. Hier muss Hoeneß wieder ein bisschen mehr Dynamik hineinbringen, denn nicht jede Mannschaft wird den Brustringträgern im Frühjahr so teilnahmslos dabei zuschauen. Gleichzeitig muss er die Sinne nach der Winterpause neu schärfen. Angesichts von 24 (!) Punkten Vorsprung auf den Relegationsplatz geht es selbstredend nicht mehr um den Klassenerhalt und auch die vielzitierte “ruhige Saison” haben wir bereits. Die Mannschaft braucht für die Rückrunde ein Ziel vor Augen, das nicht zu hoch gesteckt sein sollte — die Schale bekommen wir vermutlich im Neckarstadion dieses Jahr nicht zu sehen — sondern realistisch. Bei zehn Zählern vor Platz 7 und sieben vor Platz 5 kann sich die Mannschaft aber durchaus vornehmen, dass es im August nach all der Scheiße wirklich auf die Reise geht.
Ein wenig hängt das natürlich auch von der kurz- und mittelfristigen Kaderplanung ab. Denn Fabian Wohlgemuth muss das Kunststück gelingen, den kurzfristigen Erfolg zu sichern und dabei die langfristige Entwicklung nicht zu verpassen. Der rechnerisch wohl bald feststehende Klassenerhalt bringt immerhin Planungssicherheit, die Teilnahme an einem europäischen Wettbewerb brächte zusätzliche ungeplante Einnahmen. Gleichzeitig sind mit Deniz Undav und Alex Nübel zwei Stützen des Erfolgs nur ausgeliehen, Serhou Guirassy wird spätestens im kommenden Sommer den Verein verlassen. Eine Teilnahme an der Champions League (ja, Leute, wir haben ein 7‑Punkte-Polster, da muss man das Wort mal in den Mund nehmen dürfen) wäre ein finanzieller Rettungsanker. Aber darf man diesem Ziel alles unterordnen oder müssen wir auch gleichzeitig darauf achten, wie der Kader für 2024/2025 aussehen wird? Wer steht dann im Tor? Wer greift an? Und wer spielt sich bei Kontinentalturnieren derart ins Rampenlicht, dass der VfB ihm trotz Champions League zu klein wird? Die Herausforderungen sind groß, mein Vertrauen allerdings auch.
Jetzt genießen wir aber erstmal die zweitbeste Hinrunde (vor 20 Jahren war es ein Punkt mehr) und verbringen schöne Feiertage mit der eingerahmten Tabelle an der Wand.
Wir wünschen Euch ebenjene schönen Feiertage und einen guten Rutsch! Eine Podcast-Folge zu den beiden letzten Spielen wird es zwischen den Jahren geben, was zum Lesen vermutlich erst wieder in 2024. Feiert schön!
Zum Weiterlesen: Der Vertikalpass sah am Mittwochabend Ganz große Kunst und schwärmt: “Der VfB Stuttgart hat in der Hinrunde nicht nur Fußball gespielt, er hat eine Symphonie aus Bewegung, Strategie und Leidenschaft aufgeführt.”. Stuttgart.international meint “In diese Hinserie kann man sich als VfB-Fan eigentlich direkt reinlegen.”
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