VIZEMEISTER!
Erinnert Ihr Euch noch an Euer erstes Spiel im Neckarstadion? Vielleicht wart ihr damals noch Kinder und seid mit Euren Eltern und großen Augen durch die Mercedesstraße zur Heimspielstätte des VfB Stuttgart von 1893 spaziert, hinein in dieses große Stadion. Strahlender Sonnenschein, volles Haus. Wie die Tabelle aussieht? Wisst ihr nicht, aber der VfB soll heute auf jeden Fall gewinnen. Und am Ende passt alles: Viele Tore, überbordende Emotionen, der perfekte Tag im Stadion. Was ein sehr gutes erstes Stadionerlebnis sein könnte — meines war in Wirklichkeit der verspielte UEFA-Cup-Einzug beim 3:3 gegen Bielefeld vor 24 Jahren — ist in Wirklichkeit mein bis zum Beginn der neuen Saison letzter Stadionbesuch gewesen. Der VfB schlägt Gladbach mit 4:0, ein Tor ist schöner als das andere. Die Cannstatter Kurve erstrahlt vor Anpfiff mit einer atemberaubenden Choreo. Zwischendurch fangen die Amateure noch die Kickers auf dem Weg zum Drittliga-Aufstieg ab und später verspielen die Bayern noch eine 2:0‑Führung und den zweiten Platz. An uns! Der VfB ist zum dritten Mal nach 1979 — als man mit Schwung aus der zweiten Liga nach oben stürmte — und 2003 — als Felix Magath den Wiederaufbau nach dem Fastabstieg 2001 krönte — Vizemeister und Deniz Undav sollte mit seiner Einschätzung nach dem Pokalspiel in Leverkusen recht behalten. Der VfB gehört zu den besten beiden deutschen Mannschaften.
Es ist schwer, in Worte zu fassen, wie perfekt dieser 34. Spieltag der Bundesliga-Saison 2023/2024 aus VfB-Sicht war. Serhou Guirassy baute mit zwei Toren seine atemberaubende Bilanz ein weiteres Mal aus und vor allem das 1:0, als er den Ball im Zusammenspiel mit Enzo Millot durch den Gladbacher Strafraum zauberte zeigt die ganze Klasse dieser Mannschaft. Alex Nübel durfte sich in der Druckphase der Borussia nach der Pause noch einmal auszeichnen und zwischendurch traf der VfB immer mal wieder das Aluminium oder testete den Gladbacher Torhüter. Das ausgerechnet Silas, der schon gegen Bayern groß aufspielte mit einer überlegten Vorlage und im Anschluss mit einem wahnwitzigen Solo den Deckel auf dieses Spiel machte, ist fast zu schön um wahr zu sein. Was für eine fantastische Mannschaft. Was für eine fantastische Saison, was für ein schöner Abschluss für Physiotherapeut Gerry Wörn, der 1977 mit dem VfB in die Bundesliga aufstieg und ab 1990 insgesamt 34 Jahre lang für die Mannschaften im Brustring da war. Und wenn wir die Spieler loben, die dem VfB (hoffentlich) erhalten bleiben, dann muss man nach dieser Spielzeit auch Akteuren wie Roberto Massimo, Genki Haraguchi, Mahmoud Dahoud, Florian Schock und Li Egloff Tribut zollen, denn auch sie hatten Ihren Anteil. Vor allem bei Li Egloff, aber auch bei Techniktrainer Nate Weiss ist der Abschied schon ein bisschen schade, auch wenn bei Li irgendwann absehbar war, dass es für einen neuen Vertrag nicht reicht.
73 Punkte!
Die 90 Minuten des letzten Spieltags zu toppen war schwer, aber die Feierlichkeiten nach Abpfiff setzten diesem traumhaften VfB-Tag die Krone auf. Nachdem gegen die Bayern zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit jemand anderes als die Vorsänger auf dem Vorsängerpodest stand, platzte das Stimmungszentrum der Kurve am Samstagnachmittag aus allen Nähten. Dass dort oben nicht nur Kapitän Waldemar Anton und Toptorschütze Serhou Guirassy, sondern mit Deniz Undav und Alex Nübel auch zwei Spieler Platz fanden, die “nur” ausgeliehen sind, zeigt, wie sehr sich die Jungs in die Herzen der Fans gespielt, geschossen und gefaustet haben. Wer Nübel hört, der irgendwann sein verdientes Bier einforderte und es in Stiefelform gereicht bekam oder Deniz Undav, der im Interview mit VfBtv eine Entschuldigung dafür einfordert, dass ihm seine Einschätzung nach dem Pokalspiel (siehe oben) niemand geglaubt hat, der muss sowieso hoffen, dass der VfB irgendwo noch eine Goldgrube oder eine Ölquelle findet, um die beiden für immer hier zu behalten.
Ich bin emotional noch zu sehr vom letzten Spiel geprägt, als dass ich schon in der Lage wäre, auf die gesamte Saison zurückblicken, auf jeden einzelnen der insgesamt 73 (!!!) errungenen Punkte oder jedes der 78 geschossenen Tore (!!!). Der VfB hat so viele Rekorde in dieser Saison gebrochen, dass es einem schwindlig wird und hat punktemäßig die beste Bundesliga-Spielzeit der Vereinsgeschichte bestritten. Dass wir das nach all den Jahren der Misere, der schlechten Laune, der Trauer, nach zwei Abstiegen und zwei teilweise mühsamen Zweitliga-Jahren noch erleben dürfen, ist phänomenal. Es gibt seit diesem oben erwähnten 3:3 gegen Bielefeld nur wenige Spiele in meiner Fankarriere, die an diesen Nachmittag herankommen. Und uns stehen ja noch einige schöne Momente bevor. Und damit meine ich nicht mal das Spiel um den Supercup, sollte Leverkusen das Double holen, sondern den Wettbewerb, dessen Hymne nach dem Spiel von Stadion-DJ Jamie Leweling aufgelegt wurde, was bei mir direkt für Gänsehaut sorgte. Der VfB spielt nach all der Scheiße wieder international und nicht irgendwo, sondern in der Champions League, Zitat Sebastian Hoeneß: “Verdammte Scheiße!”
Unfassbar. Was ein Tag. Was eine Saison. Lasst uns diesen Moment auskosten, so lange es geht.
Zum Weiterlesen: Der Vertikal findet den VfB nach dieser Saison Einfach meisterhaft und will noch nicht nach Hause, denn: “Die Saison werden wir nie vergessen. Sie wird immer in uns weiterleben. Weil sie so nie wieder kommen wird. Weil der VfB eine unerwartete Schönheit hergestellt hat, die Szene für Szene, Spiel für Spiel in einem Augenblick entstand und im nächsten bereits verging – und doch für immer bestehen bleibt. In Statistiken, Tabellen und viel wichtiger in unseren Erinnerungen und Erzählungen.” Stuttgart.international, dessen Blogname jetzt endlich Wirklichkeit wirdm sieht eine Mannschaft für die Geschichtsbücher.
Titelbild: © Alexander Hassenstein/Getty Images