Bereits bei seinem Amtsantritt als Sportvorstand hatte Thomas Hitzlsperger angekündigt, dass er noch einen Sportdirektor sucht. Jetzt hat er ihn gefunden: Sven Mislintat hat bis 2021 beim VfB unterschrieben. Wir haben uns mit Fans und Experten seiner beiden ehemaligen Vereine, Borussia Dortmund und Arsenal, über ihn unterhalten.
Als der Kicker am Donnerstag morgen mit der Meldung aufmachte, dass der VfB kurz davor stehe, Sven Mislintat als Sportdirektor zu verpflichten, ging es mir wie vielen anderen VfB-Fans: Erst kam die Überraschung, dann kurz die Freude, die aber sofort von der Skepsis verdrängt wurde: Warum würde der zu uns kommen? Und wenn er kommt, würde der VfB damit nicht den Fehler wiederholen, den er mit Michael Reschke begangen hat, nämlich einen Kaderplaner, der bisher kaum im Rampenlicht stand, auf eine hervorgehobene Position zu setzen, mit der er vielleicht nicht umgehen kann? Außerdem: Wie gut ist er wirklich, denn, wie heute auf Twitter treffend bemerkt wurde:
Der #VfB hat es sich offenbar zur Aufgabe gemacht den Ruf sämtlicher (ehemaliger) Deluxe-Kaderplaner endgültig zu ruinieren.
Ehrenvolle Tätigkeit. #Mislintat
— Jojo (@Jojo_Maier) April 10, 2019
Schließlich kam auch Reschke mit einem exzellenten Ruf an den Neckar. Wobei hier erneut festgehalten werden muss, dass er sich den vor allem durch eine schlechte Trainerauswahl verdiente und dadurch, den Kader zwar von den Spielern her ganz formidabel zu planen, aber leider am Trainer vorbei. Abgesehen davon, dass ein Michael Reschke nicht fürs Rampenlicht gemacht zu sein scheint.
Kaderplaner sind keine Unbekannten mehr
Wer sich in den vergangenen Jahren auch nur ein bisschen tiefergehend mit Fußball beschäftigt hat, für den sind Namen wie Michael Reschke, Ben Manga oder eben Sven Mislintat natürlich kein Geheimnis mehr. Die Zeiten, in denen ein “Manager” alles Sportliche abgesehen vom Training managt, sind lange vorbei. Zwar gibt es auch Vereine, bei denen nur eine Person neben dem Trainer im sportlichen Bereich in der Öffentlichkeit steht. Andere verteilen die Verantwortung und die Zuständigkeiten jedoch auf mehrere Schultern, jetzt auch der VfB. Grundsätzlich ist das sicherlich keine schlechte Idee, auch wenn ich natürlich selber keine Erfahrung in diesem Bereich habe. Michael Reschke stellte ja selber fest, dass ihn die Aufgabe als Sportvorstand teilweise überforderte, schon Jan Schindelmeiser wollte Mislintat verpflichten und auch Fredi Bobic gab an, dass sein Aufrücken in den e.V.-Vorstand ihn damals zeitlich belastete. Abgesehen davon mag Thomas Hitzlsperger aufgrund seiner Karriere stark vernetzt sein und hoffentlich ein glückliches Händchen bei der Menschenführung haben — woher er die Fähigkeit zur Kaderplanung haben soll, hat sich mir von Anfang an nicht erschlossen. Aber wie eingangs erwähnt, weiß er das auch.
Wer Sven Mislintat ist, wissen die meisten mit Sicherheit schon, deswegen möchte ich an dieser Stelle nur kurz auf seine Vita und viel mehr auf sein Wirken eingehen. Anders als bei vielen aktiven Fußballspielern sind seine Karrierestationen überschaubar. Geboren in Kamen im Kreis Unna, der im Westen direkt an Dortmund anschließt, spielte er für den SV Lünen, war mal Co-Trainer beim VfL Kamen und Westfalia Herne und begann 2006 bei Borussia Dortmund zu arbeiten, laut Wikipedia als Chefscout und Leiter Profifußball. Elf Jahre blieb er beim BVB, der zu seinem Amtantritt beinahe in die zweite Liga abgestiegen wäre. Als er den Verein verließ, waren die Borussen zwei Mal Meister und einmal Pokalsieger geworden und hatten sich wieder als feste Größe an der Tabellenspitze der Liga etabliert. Ende 2017 zog er weiter zum Arsenal FC, wo er Head of Recruitment wurde, den Verein aber bereits knapp 13 Monate später, also im Februar dieses Jahres verließ.
Großen Anteil am Dortmunder Erfolg
Über Mislintats Zeit in Dortmund habe ich mich mit Jan-Henrik Gruszecki (@JH_Gruszecki), einen BVB-Fan, der den neuen Sportdirektor des VfB seit einigen Jahren kennt. Angesprochen auf den Anteil, den Mislintat am eben beschriebenen Aufschwung des BVB in den letzten zehn Jahren hatte, lautet die Antwort: “Einen Riesenanteil”. Natürlich sei der Anteil von Jürgen Klopp als Trainer, ohne den man in einen Abwärtsstrudel geraten wäre, größer, aber Mislintat habe eben auch die richtigen Spieler für das System von Klopp gefunden. Dazu zählen beispielsweise Robert Lewandowski, Pierre-Emerick Aubameyang, Shinji Kagawa. Der geneigte VfB-Fan horcht hier natürlich auf, denn eine ähnliche Liste ließe sich auch für Michael Reschke anfertigen.
Mislintat beim BVB-Training
Einer seiner größten Verdienste, so Jan-Henrik, sei es, dass Mislintat beim BVB Strukturen im Scouting und in der Anbahnung von Transfers komplett neu aufgebaut habe, die auch heute, ohne ihn, noch Bestand hätten. Auch Markus Pilawa, Mislintats Nachfolger, den er selber noch angelernt habe, profitiere davon. Die Strukturen beim BVB seien nicht ganz mit der des VfB vergleichbar. Mislintat arbeitete Michael Zorc zu, der in Dortmund die Funktion des Sportdirektors innehat, das Amt des Sportvorstands gibt es dort nicht. In Mislintats Zeit bei der Borussia fällt auch die Mitbegründung der Firma matchmetrics GmbH, mit der Mislintat ein Analysetool für das Spielerscouting entwickelte, dass er selber nutzte und welches beim BVB immer noch im Einsatz ist.
Einen guten Eindruck von Mislintats Arbeitsweise bietet dieser Artikel von Johannes Seemüller beim SWR, der aus einem Zeitartikel zitiert, der sich leider hinter einer Paywall befindet:
“Und Mislintat achtet bei seiner Spielersuche vor allem auf die Kleinigkeiten, die in den Daten über den Spieler nicht vorkommen.”
In jenem Zeitartikel wird auch deutlich, warum Mislintat den BVB nach elf Jahren verließ, es war am Ende ein Zerwürfnis mit dem damaligen Trainer Thomas Tuchel. In Dortmund sei die Bestürzung über den Wechsel von Mislintat groß gewesen, berichtet Jan-Henrik, aber er habe dort ein bestelltes Feld hinterlassen.
Große Vorfreude in London
Zu Mislintats Zeit in London konnte ich mit drei Arsenal-Experten sprechen: Daniel (@KeenosAFC), Dauerkarteninhaber bei den Gunners und Betreiber des Blogs She Wore A Yellow Ribbon, Tim Stillman (@Stillberto), Kolumnist beim Arseblog (von der britischen Football Supporters Association 2018 als Fan Media of the Year ausgezeichnet) und Nitish Bhan, ein Arsenal-Fan aus Mumbai, der für goonernews.com schreibt und mit Beyond the posts auch seinen eigenen Blog betreibt.
Alle drei sind sich einig darin, dass sie sich vor Mislintats Ankunft in London viel von ihm erwarteten, besonders von seiner Fähigkeit, unbekanntere Spieler zu entdecken, die der Verein groß rausbringen und gegebenenfalls für viel Geld verkaufen konnte, oder wie Daniel es formuliert: Man wollte wieder zurück zum Credo, dass in der Anfangszeit von Arsene Wenger gegolten habe, “Arsenal do not buy superstars, they make superstars”. Tim erklärt, dass Arsenal in einer ähnlichen Situation wie Dortmund sei: Man habe nicht die finanziellen Mittel, um mit den Vereinen aus Manchester, Bayern, Real oder Barcelona mithalten zu können und müsse deshalb durch gutes Scouting einen Vorteil haben. Nitish merkt an, dass sich die Fans vor allem nach guten jungen Abwehrspielern sehnten, da der Club immer schon kreative Offensivspieler gehabt hätte, es in der Defensive aber gefehlt habe.
Mislintat und Wenger beim Arsenal FC
Mislintat kam mitten in der letzten Saison der langen Ära von Arséne Wenger zum Club. Dessen Nachfolger Unai Emery bildete zusammen mit Mislintat als Chefscout und Raul Sanllehi, zuständig für Vertragsverhandlungen ein Triumvirat, welches an Geschäftsführer Ivan Gazidis berichtete, erklärt Daniel. Mislintat war also in London in einer ähnlichen, wenn auch exponierteren Position als beim BVB. Alle drei Arsenal-Experten sind von den Spielern, die der Head of Recruitment an Land zog, begeistert. Darunter sind neben den Ex-Dortmundern Sokratis, Aubameyang und Mkhitaryan und dem ehemaligen VfB-Torhüter Bernd Leno auch Lucas Torreira und Matteo Guendouzi. Wobei Daniel darauf hinweist, dass Mislintat sich auch auf sein Netzwerk von Scouts verließ um einen Spieler das erste Mal zu sichten, sich den Kandidaten vor einem Transfer aber selber noch mehrmals anschaute. Tim sieht das ähnlich und verweist auf einen in der Tat sehr lesenswerten Artikel, den er auf dem Arseblog geschrieben hat. Sein Ansatz: “Recruitment is about networks and structures rather than individuals and the network needs to be pulling together with a shared vision.” Über seine Zeit bei Arsenal hat Christoph Biermann, Redakteur von 11Freunde und Autor des übrigens sehr interessanten Buches “Matchplan” einen aufschlussreichen Artikel auf 11Freunde.de geschrieben.
Warum zum VfB?
Über Mislintats Abgang in London gibt es, wie Daniel auch in seinem am Donnerstag erschienen Blogartikel festhält, verschiedene Spekulationen, von denen die für ihn wahrscheinlichste jene ist, nach der Mislintat, nachdem Gazidis Arsenal verließ, zum Techischen Direktor aufsteigen wollte, diesen Posten aber nicht bekam. Das könnte auch eine Antwort auf die eingangs und wahrscheinlich von vielen VfB-Fans gestellte Frage sein, warum Mislintat ausgerechnet bei einem Verein wie dem VfB in dessen historisch schlechtester Bundesliga-Saison anheuert. Denn beim VfB hat er als Sportdirektor wesentlich mehr Kompetenzen als als Chefscout oder Head of Recruitment, gleichzeitig ist es weiterhin Thomas Hitzlsperger, der die sportliche Gesamtverantwortung trägt.
Auch die Aussicht auf einen weiteren Investor und damit für einen Umbau des Kaders zur Verfügung stehendes Geld dürfte nicht unbedingt ein Contra-Argument gewesen sein. Ob es das war, was der VfB in der offiziellen Vorstellung auf seiner Homepage mit einer “guten Verbindung zu Wolfgang Dietrich” meinte? Wie auch immer. Klar ist aber auch, dass er beim VfB trotz weiterer verkaufter Anteile nicht annähernd die Summen zur Verfügung haben wird wie in London oder in Dortmund in deren Hochphase. Wie Michael Reschke wird er auch ein oder zwei Regale tiefer suchen müssen. Daniel weist bei dieser Gelegenheit auch darauf hin, dass auch bei Mislintat, wie wahrscheinlich bei jedem Scout, nicht jeder Schuss ein Treffer war und dass Dortmund trotz guter Schnäppchen auch viel Geld ausgegebene habe. Summen, neben denen die 45 Millionen von Michael Reschke eher mickrig wirken.
Ehrlich und direkt
Jan-Henrik, der als BVB-Fan den VfB natürlich näher verfolgt und Mislintat auch gut kennt, traut ihm die Aufgabe auf jeden Fall zu. Mislintat habe eine klare Ansprache, sei, typisch Ruhrpott, “ehrlich und direkt”. Also eigentlich genau das, was Hitzlsperger sich vorstellte, als er bei VfB im Dialog sagte, er brauche jemanden, der ihn auch herausfordert. Solange Mislintat nicht auch genauso ehrlich und direkt in der Öffentlichkeit agiert wie Reschke, soll mir das recht sein. Auch Daniel kann sich gut vorstellen, dass er beim VfB Erfolg haben kann, weist jedoch auch auf Mislintats direkte Art hin: “History has shown us that he needs to get his way, and if he does not get his way he causes trouble. He seems to be very easy to fall out with.”
Wie schon oben angesprochen wird auch bei uns vieles aufs Zwischenmenschliche ankommen: Wie gut arbeitet Mislintat mit Thomas Hitzlsperger zusammen der ja lange Zeit noch Spieler war, während sein neuer Sportdirektor schon Chefscout in Dortmund war? Wie sehr mischt sich Wolfgang Dietrich bei Misserfolg ins Sportliche ein und wie reagiert Mislintat darauf. Immerhin: Es wirkt so, als sei wesentlich mehr eine Verpflichtung von Thomas Hitzlsperger als von Wolfgang Dietrich, der ja in der Vergangenheit schon bewiesen hat, wie wenig er internen Widerspruch schätzt. Wie gut arbeitet Mislintat mit dem derzeitigen Chefscout Markus Lösch zusammen, bringt er eigene Scouts mit? Nitish ist da optimistisch: “If Sven and the Head Of Sport, along with the manager share the same ideology. success isn’t too far off for Stuttgart either.”
Nächste Saison: Welcher Trainer, welche Liga, welcher Kader?
Was seine sportliche Bilanz angeht, besteht wenig Zweifel an der Befähigung Mislintats für die neu geschaffene Stelle beim VfB. Wir kennen aber unseren Verein nur zu gut und wissen, wie gut man in Bad Cannstatt darin ist, sich in das unvorstellbarste Chaos zu stürzen. Was nicht vergessen werden darf: Niemand weiß derzeit, wer nach dieser Saison Trainer beim VfB ist, denn Markus Weinzierl hat nur einen Vertrag für die erste Liga, wäre nach einem Abstieg wohl auch kaum haltbar und selbst beim Klassenerhalt ist angesichts seiner verheerenden Bilanz alles andere als sicher, dass er nicht trotzdem entlassen wird. Gleichzeitig muss Mislintat bereits jetzt den Kader für die kommende Saison planen, einmal für die Erstklassigkeit, einmal für die Zweitklassigkeit. Es ist nicht zu erwarten, dass er am Montag nach dem Schalke-Spiel wie letztes Jahr Michael Reschke fünf Spieler auf einen Schlag an Land zieht.
Ich würde mir wünschen, dass Sven Mislintat in Stuttgart ähnliche Strukturen aufbaut, wie er das in Dortmund getan hat. Denn funktionierende Strukturen, gerade im Nachwuchsbereich, waren eigentlich immer die Stärke des VfB. Das Problem, mit dem Personal wechselten auch die Strukturen. Was die Philosophie und das Grundgerüst des VfB sein soll, weiß heute keiner mehr. Kein Wunder denn seit dem Abstieg 2016, der nach dem jahrelangen Verfall des Vereins eigentlich eine Zäsur härre darstellen sollen, hatte der VfB drei verschiedene Sportvorstände und ebenso viele Trainer, wenn an das Missverständnis mit Jos Luhukay rausrechnet. Ich gehe davon aus, dass Thomas Hitzlsperger aus dem Desaster mit Michael Reschke gelernt hat und nicht die gleichen Fehler wiederholen will.
Vielleicht bricht jetzt mit Mislintat und Rainer Widmayer, der als ständiger Co-Trainer fungieren soll, endlich die Ära der Kontinuität beim VfB an. Daran zu glauben verbiete ich mir schon aus Selbstschutz:
Bis ich bei einer neuen VfB-Personalie nochmal euphorisch werde, wird noch viel Wasser den Neckar runterfließen und viel Feinstaub durch Stuttgart wabern. #VfB #Mislintat
— Seriouz (@Seriouz1893) April 11, 2019
Danke!