Für die VfB-Fans ist das Auswärtsspiel bei Union Berlin ein weiteres Novum in ihrer Fankarriere. Noch nie traten die Brustringträger in Köpenick an, entsprechend wenig weiß man in Stuttgart gemeinhin über den Gegner des Spiels am Sonntag. Im Gespräch mit Sebastian vom Blog und Podcast Textilvergehen wollen wir ein wenig Licht ins Dunkel bringen.
Rund um den Brustring: Hallo Sebastian, vielen Dank, dass Du dir Zeit für unser Gespräch genommen hast. Unter dem Namen Textilvergehen bloggt und podcastet Ihr über Union Berlin. Wie seid Ihr dazu gekommen, seid wann macht Ihr das und woher kommt der Name?
Sebastian: Textilvergehen gibt es seit 2006 und wurde von Steffi gegründet. Ich kam seit 2009 dazu und seitdem gibt es auch regelmäßig zu jedem Spieltag einen Podcast. Zum Kernteam kamen zwischen 2009 und 2011 auch Robert, Gero und Hans-Martin hinzu. Eigentlich hatten wir nur einen Ort gesucht, um uns über Union auszutauschen und auszulassen. Mittlerweile gibt es jeden Morgen den “State of the Union”, der alles Wichtige zu Union zusammenfasst, Fotos von Spielen, die Steffi macht, den Podcast und als Neuzugang auch Jacob Sweetman, der englisch-sprachige Texte zu Union schreibt, die wir im Original veröffentlichen und manchmal auch übersetzen, wie das Porträt unseres Angreifers Steven Skrzybski.
Dieses Jahr sind zwei Dinge passiert, auf die wir sehr stolz sind. Im Januar hat uns Union vor mehreren tausend Mitgliedern auf der Mitgliederversammlung zum 50-jährigen Vereinsjubiläum für unsere Arbeit mit der Silbernen Ehrennadel des Vereins ausgezeichnet. Und im Oktober hat uns die Akademie für Fußballkultur zum “Fußballblog des Jahres” gewählt. Wir würden all das auch ohne die Auszeichnungen machen, sind aber wirklich auch sehr stolz auf die Anerkennung, die wir bekommen.
Rund um den Brustring: Seit dem Aufstieg 2009 spielt Ihr in der 2. Bundesliga und habt Euch dabei langsam immer weiter nach oben entwickelt. Momentan steht ihr auf Platz 5. Was traut Ihr der Mannschaft diese Saison noch zu?
Sebastian: Das klingt, als würde es nur bergauf gehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Union zwischen 2012 und 2014 stagnierte und man dem damaligen Trainer Uwe Neuhaus den nächsten Schritt nach mehreren vergeblichen Anläufen nicht zutraute. Nach einer zweijährigen Phase des Umbruchs mit den Trainern Norbert Düwel, Sascha Lewandowski und André Hofschneider konsolidiert sich Union mittlerweile und hat eine starke und sehr eingespielte Mannschaft. Aus diesem Grund traue ich ihr auf jeden Fall zu, im oberen Drittel zu landen. Wo genau dort, ist jedoch ist in dieser Liga kaum planbar. Ich würde mich freuen, wenn das Team bis zum Schluss um den Aufstieg mitspielen würde.
Rund um den Brustring: Ist Union schon reif für den Aufstieg in die Bundesliga? Ich habe gelesen, dass man in der Fanszene einem Aufstieg teilweise mit gemischten Gefühlen gegenüber steht, weil man eine weitere Kommerzialisierung fürchtet. Ist das so und wie ist Eure Meinung dazu?
Sebastian: Ich glaube, dass es kaum eine Fanszene gibt, die die aktuelle Entwicklung der Bundesliga nicht kritisch sieht. Die Frage ist eher, ob man gehört wird. Das Credo von Unions Präsidenten Dirk Zingler ist, dass wir unsere Fankultur am ehesten schützen können, wenn wir unsere Stimme erheben und diese Stimme Gewicht hat. Schon allein aus diesem Grund ist ein Bundesliga-Aufstieg von Union wünschenswert. Als Bundesligist wird man einfach eher wahrgenommen als als Zweitligist.
Die Bedenken innerhalb der Unionfans kommen ja eher daher, dass man fürchtet, dass der Anpassungsdruck in der Bundesliga so hoch ist, dass man genau so konform sein muss wie die anderen Klubs. Ich würde mich Dirk Zingler anschließen und lieber in einem Jahr Bundesliga die anderen Vereine und Fanszenen dahingehend bekehren, dass sie sich auf ihre eigenständige Identität konzentrieren und nicht das machen, was alle anderen tun. Aber sie müssen nicht so werden wie Union. 18 Mal so ein Verein wie Union wäre ja auch langweilig.
Rund um den Brustring: Ihr zählt mit zu den torgefährlichsten Mannschaften der Liga, die letzten beiden Spiele gingen jedoch gegen jeweils mit 0:1 gegen Kaiserslautern und Düsseldorf verloren. Klassische Frage aus der Mixed Zone: Woran lag’s?
Sebastian: In der Kurzform: Union hatte zwar viel Ballbesitz, kam aber nicht mehr häufig genug in den Strafraum. In der Langform: Wenn sich der Sechser zum Spielaufbau zwischen die Innenverteidiger fallen lässt, fehlt er als Verbindung zu den offensiven Mittelfelfeldspielern. Außerdem fiel Rechtsverteidiger Christopher Trimmel mit Schultereckgelenksprengung aus, für den es keinen Ersatz gibt, weil sich der andere Rechtsverteidiger, Benjamin Kessel, zu Saisonbeginn den Fuß gebrochen hat. Mal schauen, wer gegen Stuttgart auf der rechten Abwehrseite aufläuft. Das kann auch Christopher Trimmel sein. Auch wenn ich das für riskant halte. Für mehr Analysen zum Spiel empfehle ich das Taktikblog Eiserne Ketten, das fast alle Unionspiele aus taktischer Sicht analysiert.
Rund um den Brustring: Seit Saisonbeginn heißt Euer Trainer Jens Keller, der früher Jugendtrainer bei uns war und dann für neun Spiele die Bundesliga-Mannschaft übernehmen dürfte, bevor er nach Gelsenkirchen wechselte. Wie ist Euer bisheriger Eindruck von ihm?
Sebastian: Ich muss ehrlich sein. Als ich den Namen gehört habe, habe ich etwas mit den Schultern gezuckt. Fand ich nicht doof, hat mich aber auch nicht begeistert. Aber jetzt bin ich doch sehr überzeugt. Einerseits legt er viel Wert auf Fitness, was für die laufintensive Spielweise unter Keller auch Voraussetzung ist. Dann hat er es geschafft, seine Spielidee der Mannschaft gegenüber zu vermitteln. Das war weder Norbert Düwel noch Sascha Lewandowski in diesem Maße gelungen. Auch wenn Jens Keller von der Vorarbeit der beiden Trainer sicher profitiert. Aber es gibt noch einen Punkt, von dem ich keine Ahnung hatte: Jens Keller trifft sehr häufig den richtigen Ton. Er ist unglaublich schlagfertig und hat, glaube ich, einen Kabinentalk drauf, der macht, dass die Leute Spaß an dem haben, was sie machen und gleichzeitig auch überzeugt davon sind. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass er die Entscheidung trifft. Gute Verpflichtung.
Rund um den Brustring: Wo liegen die Stärken von Union? Vor welchen Spielern muss sich der VfB am Sonntag in acht nehmen?
Sebastian: Im letzten Jahr hätte ich noch Bobby Wood gesagt. Aber dieses Jahr ist es so, dass es eigentlich keinen Spieler gibt, der unglaublich herausragt. Felix Kroos ist wie sein Bruder eine ständig unterschätzte Passmaschine (vielleicht nicht ganz auf Champions-League-Niveau 😀). Und Toni Leistner verliert so gut wie kein Kopfballduell. Ansonsten verteilt sich das ganz gut. Gerade in der Offensive haben die alle unterschiedliche Qualitäten. Da kann ich keinen herausheben. Außer Collin Quaner, dem ich persönlich vor der Saison die Zweitligatauglichkeit abgesprochen habe und einen Wechsel nahegelegt habe. Seht ihr, so viel Ahnung habe ich von Fußball.
Rund um den Brustring: Und wo seht Ihr Schwächen bei der Mannschaft?
Sebastian: Gegen eine Mannschaft mit guter Strafraumverteidigung tut sich Union schwer. Aber damit ist das Team in der Zweiten Liga nicht allein.
Rund um den Brustring: Reden wir über den Verein und dessen Außenwirkung, denn viele VfB-Fans kennen Union Berlin mangels direkter Aufeinandertreffen nur vom Hörensagen. Beim Pokalspiel in Dortmund waren laut kicker 10.000 Berliner im Westfalenstadion, in der Adventszeit trifft man sich in der Alten Försterei zum Weihnachtssingen. Union gilt in der 2. Liga ähnlich wie St.Pauli als Kultclub. Könnt ihr mit diesem Bezeichung etwas anfangen und wie ist Eure “Innensicht” als Union-Fans?
Sebastian: Für das Wort “Kultklub” ist ein Kurzer fällig. Mindestens. Union ist ein Verein, der im Grunde erst einmal nicht so viele Unterschiede zu anderen aufweist. Das, was besonders ist, ist die Selbstorganisation der Fans. Die war in der DDR notwendig, weil sonst gar nichts passiert wäre. So ist zum Beispiel damals die Union-Liga entstanden, in der Fanklubs in verschiedenen Ligen gegeneinander gespielt haben (und das bis heute tun).
Nach der Wende war der Verein so chaotisch geführt worden, dass wiederum Faninitiativen die mangelnde Professionalität ausgeglichen haben. So entstand ja das Weihnachtssingen, dass da einfach knapp 80 Leute nachts ins Stadion eingebrochen sind, um sich vor Weihnachten noch einmal zu treffen und Lieder anzustimmen. Zumal damals gar nicht klar war, ob Union noch lange existieren würde.
Mittlerweile wird Union sehr professionell geführt (sonst wäre ein Weihnachtssingen mit 27.000 Leuten auch nicht durchzuführen). Aber die Mentalität, Input von den Anhängern gutzuheißen, ist geblieben. Sei es durch die organisierte Fanszene, durch Theaterstücke, Ausstellungen, Turniere, Drachenbootrennen, etc. Es ist halt mehr als nur am Wochenende zum Spiel zu gehen. Für mich ist Union eine Familie und wir halten zusammen. Vor allem in schlechten Zeiten. Das ist mir wichtig.
Rund um den Brustring: Noch eine Frage zum Selbstverständnis: Sieht man sich bei Union über 25 Jahre nach der Wende noch als Ostverein, wie es viele Vereine in den neuen Bundesländern tun, oder eher als Berliner Verein?
Sebastian: Natürlich ist Union ein Ostverein. Ich kann ja die geographische Lage nicht verändern. Union ist genau so ein Ostverein wie es Hertha BSC (der mitgliederstärkste Verein in Ostdeutschland) oder Rasenballsport Leipzig ist.
Aber die Frage zielt ja eher darauf ab, ob Union noch ein DDR-Verein wäre. Das würde ich aus meiner Sicht verneinen. Natürlich gibt es die Herkunft des Vereins, die je nach Alter der Anhänger auch eine Rolle spielt. An das Klischee der Staatsfeinde bei Union glaube ich nicht so gerne. Das kommt vor allem daher, dass Union der einzig zivile Berliner Fußballklub in der DDR war. Und ehe man zum Armeesportklub oder Klub des Geheimdienstes (BFC Dynamo) geht, war Union eher die Wahl. Aber so ein einfaches Gut-Böse-Denken auf die Anhänger zu übertragen, halte ich für problematisch. Es gab ja vor allem viel grau in der DDR :).
Warum ich die Sache mit dem DDR-Verein verneine? Erstens ist Union nun schon länger ein Verein im vereinigten Deutschland als in der DDR. Außerdem hat Berlin eine sehr spezielle Kultur, die sehr viel vermischt. Hier Leute nach Ost und West zu fragen, sorgt nur für fragende Gesichter. Besonders stark hat der Stadionbau von 2008 bis 2009 die Identität des Vereins geprägt. Es haben so viele Fans mitgebaut, dass aus meiner Sicht diese ganze DDR-Identität dahinter Stück für Stück verblasst ist. Ich bin überzeugt davon, dass Union nicht so attraktiv für neue Fans wäre, wenn diese DDR-Identität heute noch bestimmend wäre. Außerdem kommt noch hinzu, dass Union in der DDR sportlich (bis auf einen Pokalsieg) ein erfolgloser Verein war, der zwischen erster und zweiter Liga pendelte. Das unterscheidet den Klub von Vereinen wie Magdeburg, Dresden, Jena oder den BFC Dynamo, die allesamt Dauergäste im Europapokal waren und mit der DDR tatsächlich auch ihre sportliche Bedeutung verloren haben.
Union ist ein Verein in Köpenick und zieht aus dieser Herkunft eine besondere Identität. So wie jeder Stadtteil von Berlin eine eigene Identität hat. Wenn wir es also von weit weg betrachten, ist Union ein ostdeutscher Verein. Und wenn man sich dem Klub annähert, dann ist es erst ein Berliner und dann ein Köpenicker Verein.
Rund um den Brustring: Für viele VfB-Fans ist es wie gesagt die erste Reise zu Union. Was ist das Besondere am Stadion an der Alten Försterei und was kann man am Wochenende vor dem Spiel als Berlin-Besucher sonst noch so unternehmen, wenn man nicht gerade die klassischen Touristenziele ansteuern will, vielleicht auch gerade in Köpenick?
Sebastian: Dank der Anstoßzeit ist das ja gar nicht so einfach, sich vorher Sachen anzuschauen. Wenn ihr Bock auf Köpenick habt, dann besucht die Altstadt von Köpenick, seht zu, dass ihr das viele Wasser in Köpenick bestaunt, fahrt zum Müggelsee, geht in irgendein Lokal an der Dahme oder Spree. Köpenick ist ein klassisches Ausflugsziel für Berliner, weil es dort so viel Wald und Wasser gibt. Aber November ist vielleicht nicht die beste Zeit dafür. Was ich aber immer sagen kann: Berlin ist mehr als das, was sich innerhalb des S‑Bahnringes befindet. Macht die Augen auf und schaut euch an, wie unterschiedlich die verschiedenen Stadtteile von Berlin sind. Bier gibt es in Berlin an jeder Ecke zu jeder Zeit. Das Zauberwort heißt Späti (von Spätverkauf). Aus meiner Sicht ist die Späti-Kultur tatsächlich etwas einzigartiges. Lasst es euch hier gut gehen.
Rund um den Brustring: Abschließend: Euer Tipp fürs Spiel?
Sebastian: Ich tippe ganz klar auf einen Sieg für Union. Die Mannschaft muss sich nicht verstecken. Ich sage mal 2:0.
Bild: © Stefanie Fiebrig/Textilvergehen