Folgt auf eine rauschhafte Saison der große Kater? Alles eine Frage der Perspektive.
Dafür, dass der VfB Mitte Mai die Bundesliga-Saison als Vizemeister beendete, könnte man als Anhänger des Vereins für Bewegungsspiele nur wenige Wochen später bereits eine erstaunlich schlechte Laune haben: Erst machte die DFL, was sie seit über 20 Jahren macht, nämlich für Leverkusen eine Ausnahme, indem sie den an sich bedeutunglosen Supercup in ein Stadion verlegte, dass nur halb so groß ist wie das Neckarstadion und mit dessen Stimmung auch nicht mithalten kann. Dann strich Bundestrainer Julian Nagelsmann entgegen anderslautender Ankündigungen VfB-Torwart Alexander Nübel aus dem EM-Kader. Und wenig später manifestierten sich die seit Monaten kursierenden Abgangsgerüchte im Wechsel von Hiroki Ito zum FC Bayern und dem wohl schon feststehenden Wechsel von Kapitän Waldemar Anton nach Dortmund — beide mit einer Ausstiegsklausel, über die noch andere Leistungsträger verfügen. Und zu allem Überfluss — und in anderem Zusammenhang — starten neuerdings noch Faschisten mit und ohne blauem Parteibuch einen jämmerlichen Versuch, unseren Europapokalgesang für ihre menschenverachtende Ideologie zu missbrauchen.
Gegen Letzteres hilft immerhin eine klare Kante, denn wir und der Verein stehen für alles, was ihr in Eurem Nationalwahn hasst. Ausstiegsklauseln, das Hauptärgernis derzeit, sind aber Teil des Fußballgeschäfts und wie ich neulich schon darlegte, das Ergebnis unseres rasanten Aufstiegs innerhalb der Liga. Und auch wenn vor allem Antons hochtrabende verbale Wappenknutscherei in Gegensatz zu seinem Handeln steht, gilt es, sich diesen Aufstieg und überhaupt das Erreichte noch einmal zu vergegenwärtigen. Dafür hilft es, sich einmal fünf Jahre zurückzuversetzen, genauer in den Frühsommer 2019. Der VfB war gerade zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren abgestiegen und hatte das gerade erst durch die Daimler-Millionen notdürftig geflickte finanzielle Loch erneut sperrangelweit aufgerissen. Die Mannschaft bot nur wenige Anhaltspunkte für Identifikation und was das neue Duo aus Sportvorstand Thomas Hitzlsperger und Sportdirektor Sven Mislintat zu leisten imstande sein würde, war nicht absehbar. Eine Frauenmannschaft im Brustring war nicht vorstellbar und die zweite Herrenmannschaft tat es den Profis gleich und stieg erstmal seit 17 Jahren wieder in die Oberliga ab. Der VfB war sportlich und vereinspolitisch ein Trümmerfeld.
Vom Trümmerfeld zur Vizemeisterschaft
Und während die Gremien auch in den folgenden fünf Jahren weiterhin von Machtkämpfen, Intrigen und Eitelkeiten geprägt waren, brach sportlich eine neue Zeitrechnung an, die im Mai einen bedeutenden Meilenstein erreichte. Die Profimannschaft stürmte aus der Relegation zur Vizemeisterschaft, spielte statistisch die beste Bundesliga-Saison der Vereinsgeschichte und pulverisierte dabei reihenweise Rekorde. Zum ersten Mal seit 11 Jahren tritt der VfB wieder im Europapokal an, zum ersten Mal seit 2010 erklingt wieder die Champions League-Hymne im Neckarstadion. Was den Abgang von Anton auch so enttäuschend macht, ist das hohe Identifikationspotenzial, welches die Mannschaft selbst in den beiden Spielzeiten zuvor, als es durchgängig gegen den Abstieg ging, bot. Sven Mislintat baute seit seinem Amtsantritt einen Kader von Spielern mit großen Möglichkeiten auf, Fabian Wohlgemuth ergänzte diesen um Akteure mit vermeintlich niedrigerer Leistungsdecke, aber größerer Stabilität. Zur (Vize-)Meisterleistung führte sie ein Trainer, dem es gelang, das große Potenzial der Mannschaft in effektive Bahnen zu lenken. Das Ergebnis ist ein Fußball und eine Saison, an die wir uns noch lange erinnern werden.
Aber nicht nur die Profis feierten Erfolge: Die Frauen korrigierten den Abstieg ihrer Vorgängerinnen im Trikot des VfB Obertürkheim und dürfen kommende Saison zum ersten Mal auf überregionaler Bühne auflaufen. Und zwar nicht nur in der Liga, in der sie dem wohl größten Druck aller VfB-Mannschaften stand hielten, sondern auch im wfv-Pokal, über den sie sich für die ersten möglicherweise bundesweiten Reisen in der kommenden Saison qualifizieren. Und die VfB-Amateure feierten nach acht Jahren die Rückkehr in die 3. Liga, zu deren Gründungsmitgliedern sie einst zählten. Nun kann man von zweiten Mannschaften in Profiligen halten, was man will, dass man ausgerechnet den Kickers in letzter Sekunde den Platz an der Sonne nahm, hat trotzdem eine besondere Note. Und auch wenn die Nachwuchsteams im Brustring in diesem Jahr keine Titel erringen konnten, drängen viele Talente aktuell nach oben, was man auch an der Zusammensetzung der Aufstiegsmannschaft des VfB II sehen konnte, und weitere können sich nächste Saison auf internationalem Level beweisen. Der Spielplan der VfB-Mannschaften in der kommenden Saison ist vollgepackt mit spannenden Begegnungen.
Die Achterbahn stoppen
Warum ich das alles aufschreibe? Weil der VfB gerade sportlich einen unglaublichen Schwung hat und einmal mehr vor der Herausforderung steht, im größten Erfolg nicht die größten Fehler zu machen. Der Blick auf die vergangenen fünf Jahre zeigt auch: Diese Bundesliga-Saison war absolut einzigartig und wird sich höchstwahrscheinlich weder wiederholen, noch übertreffen lassen. Zumindest nicht in absehbarer Zeit. Deswegen ist es so wichtig, den sportlichen Schwung und nicht zuletzt auch die finanziellen Möglichkeiten vor allem für eins zu nutzen: Stabilität. Natürlich wäre es wünschenswert und fantastisch, sich nach einer herausragenden Saison mehrere Spielzeiten lang in der Spitzengruppe der Liga festzusetzen, wie es Borussia Mönchengladbach Anfang der Zehnerjahre gelang oder der Frankfurter Eintracht nach der gewonnenen Relegation 2016. Dafür muss aber viel zusammenkommen und nicht zuletzt die Transfers müssen sitzen. Die Borussia verlor nach dem Einzug in die Champions League als Tabellenvierter 2021 Marco Reus an Borussia Dortmund und Dante an Bayern München und auch Eintracht Frankfurt musste in den vergangenen Jahren immer wieder Leistungsträger ersetzen. Aber während die Eintracht nach und nach in immer neue Dimensionen des Erfolgs vorstieß, hat der VfB derzeit nicht die finanziellen Mittel, um die Angriffe sportlich derzeit ähnlich attraktiver Vereine auf die eigenen Spieler zu kontern. Gleichzeitig gilt aber auch: Selbst wenn Waldemar Anton dem Vorbild der AG-Führung folgte und durch emotionale Statements Erwartungen schürte, die er dann doch enttäuschte, ist die Situation bei jedem unserer Spieler anders. Und selbst wenn er nicht der letzte Abgang mit Ausstiegsklausel sein sollte, darf und wird uns das nicht von unserem mittelfristigen Ziel abbringen.
Dieses Ziel muss es sein, die Achterbahn der letzten fünf Jahre zu stoppen und sich wieder nachhaltig in der Bundesliga zu etablieren. Dazu gehört auch, dass wir vielleicht im Jahr 2025 nicht mehr international spielen und uns immer wieder von in den letzten Jahren uns ans Herz gewachsenen Spielern trennen müssen. Die Normalität wird in der ferneren Zukunft vielleicht nicht mehr aus rauschenden Europapokalnächten bestehen, aber sie darf auch nicht in Relegationsduellen oder gar in Osnabrück oder Wiesbaden stattfinden. Die Zeiten, in denen wir über einen Platz außerhalb der Top 6 zurecht enttäuscht sein durften, sind auf absehbare Zeit vorbei. Wir sollten unseren Stolz in Zukunft also nicht unbedingt daraus ziehen, welche Stars bei uns spielen oder mit welchen europäischen Gegnern wir es aufnehmen, sondern daraus, dass der VfB wieder ein stabiler Bundesligist ist, den sportlich wie finanziell nichts mehr so leicht umwerfen kann. Die Vorzeichen dafür standen lange nicht mehr so gut wie jetzt. Grund genug, sich nicht die Stimmung vermiesen zu lassen.
Zum Weiterlesen: Kommentare von Jochen Klingovsky bei Stuttgarter Zeitung/Nachrichten sowie Simeon Kramer beim Zeitungsverlag Waiblingen bezeichnen das Signal, was von Antons Wechsel ausgeht als “fatal”. Sebastian vom Vertikalpass ist ein bisschen fatalistisch unterwegs, denkt aber ähnlich wie ich: “Falls der Stuttgarter Schluss-Verkauf der Preis ist, den wir für die überragende letzte Saison zahlen müssen, dann sei es so.” Und Stuttgart.international stellt fest: “Fabian Wohlgemuth könnte genau der Richtige sein, um Gefühlsduseleien gar nicht erst aufkommen zu lassen. In seiner Berliner Nüchternheit wirkt der frischgebackene Sportvorstand wie ein Anti-Reschke. Er freut sich keine Löcher in den Bauch, sondern versucht, das Kader-Puzzle auf Grundlage der gemeinsamen Analysen zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzusetzen.”
Titelbild: © THOMAS KIENZLE/AFP via Getty Images