Zum zweiten Heimspiel der Saison empfängt der VfB am Samstag den VfL Wolfsburg. Wir haben mit Leonard Hartmann (@leonardmann04) von den Wolfsburger Nachrichten über den Verein und das Spiel gesprochen.
Rund um den Brustring: Hallo Leonard, erzähl erstmal mal was über Dich. Du schreibst für die Wolfsburger Nachrichten über den VfL, wie bist Du dazu gekommen und wie sehr ist man lokaler Sportjournalist auch Fan?
Leonard: Die Wolfsburger Nachrichten sind Teil der Braunschweiger Zeitung, die früher bei meiner Familie auf dem Frühstückstisch lag. Ich bin mit dem Blatt aufgewachsen, habe jeden Tag vor der Schule bei einem Nutella-Toast und einer Schüssel Cini Minis den Sportteil inhaliert. Als sich nach meinem Studium die Chance aufs Volontariat bei der BZ eröffnete, griff ich zu und bin nach eineinhalb Jahren, die sich um Schützenvereine, Gerichtsverhandlungen und Lokalpolitik drehten, in die Sportredaktion Wolfsburg gekommen — und seitdem nicht mehr gegangen. Zur Saison 14/15, als der VfL Euro League spielte, habe ich angefangen.
Ich finde, als Journalist darf man sich immer begeistern lassen von einem Spieler oder der Mannschaft des Vereins, über den man berichtet. Das war bei mir und dem VfL mit Kevin De Bruyne so — was ein geiler Spieler. In solchen Phasen kommt einfach seine Liebe zum Spiel durch. Dennoch sollte die Berichterstattung in einem neutralen Bereich ablaufen, in dem die Emotionen nicht eine so große Rolle spielen. Wenn man mit dem Herz bei dem Verein dabei ist, über den man täglich auch kritisch berichteten soll, sollte man sehr darauf achten, dass den Lesern die Verbindung nicht auffällt. Das ist zumindest meine Meinung. Mein Lieblingsklub ist übrigens Eintracht Frankfurt.
Rund um den Brustring: Nach nur einem Jahr Pause kommt es wieder zu einem Aufeinandertreffen zwischen dem VfB und Wolfsburg. Beinahe wäre es dazu nicht gekommen. Wie konnte der Vizemeister und Pokalsieger von 2015 binnen 24 Monaten mit einem Bein in der zweiten Liga stehen?
Leonard: Es ist eine Fehlerkette, die sich an einigen Personalien ganz gut festmachen lässt. Im Sommer 2015, nach dem Pokalsieg und der Vizemeisterschaft, war klar, dass der VfL die überragenden Kevin De Bruyne und Ivan Perisic nicht halten kann. Beide wollten weg — und durften bei entsprechenden Angeboten auch gehen. Nur: Statt im Juli schon für klare Verhältnisse zu sorgen, verkaufte Klaus Allofs die beiden erst Ende August und holte Julian Draxler dazu. Das bedeutete: Dieter Heckings Vorbereitung hatte keinen Wert mehr, weil er die taktischen Varianten — wie in der Vorsaison — auf De Bruyne und Perisic zugeschnitten hatte. Mit Draxler kam ein neuer Fixpunkt dazu, der das Team nicht kannte und daher Zeit benötigte. Aber die gab’s nicht.
Also schrumpelte sich der VfL so durch die Liga, in der Champions League lief’s dagegen gut, weil sich die hoch bezahlten Stars auf der großen Bühne wohlfühlten. Gegen Madrid brillierte der VfL, gegen Augsburg verlor er drei Tage später. In der Mannschaft steckte ein fettes Mentalitätsproblem. Das sollte in der Sommerperiode zur Saison 16/17 behoben werden. Wurde es aber nicht. Von 25 Spielern im Kader teilten 17 (!) mal mehr mal weniger öffentlich ihren Wechselwunsch mit. Hecking war noch immer da, hatte das Team aber schon verloren. Viele — allen voran Julian Draxler — mussten gegen ihren Willen bleiben. Und die latente Unzufriedenheit schimmerte immer mehr durch. Hecking bekam’s nicht mehr in den Griff, Ismäel erst recht nicht. Jonker übernahm den Trümmerhaufen auf Platz 14 und stieg mit ihm fast noch ab. Die Rettung in der Relegation hatte mehr mit Glück als mit Verstand und Qualität zu tun. Und ich denke: All das hätte verhindert werden können, wenn Allofs De Bruyne vor zwei Jahren schon im Juli statt Ende August verkauft und Draxler, der schon auf dem Markt war, gekauft hätte. Aber wie sagte Lothar Matthäus neulich so schön: Wäre, wäre, Fahrradkette.
Rund um den Brustring: Dieter Hecking wurde im Oktober 2016 entlassen, danach versuchte sich Valerien Ismäel, bevor im Februar Andries Jonker das Traineramt übernahm und schließlich den Klassenerhalt schaffte. War die Trennung von Hecking deiner Meinung nach richtig und was traust Du Jonker zu?
Leonard: Wie schon bei De Bruyne und Perisic hat der VfL auch bei Hecking den “richtigen” Zeitpunkt zur Trennung verpasst. Im Sommer 2016 hätte der Klub einen sauberen Schnitt machen können, und Hecking hätte sich die Wochen bis zu seiner Entlassung nicht mit den völlig ungerechtfertigten “Hecking raus”-Rufen in der Arena belasten müssen. In den Jahren zuvor hatte er einfach gute Arbeit geleistet. Der Zeitpunkt der Entlassung war falsch, einen neuen Trainer zu installieren, hingegen richtig. Allerdings erwies sich Ismäel als ein übereilter Fehlgriff, und auch Jonker scheint keine Dauerlösung zu sein. Es würde mich wundern, wenn er an Weihnachten noch im Amt ist. Aber es gibt ja immer Wunder…
Rund um den Brustring: Im Februar kündigte Eigentümer Volkswagen an, die Unterstützung des VfL um 20 Millionen zu kürzen. Hat man das im sportlichen Bereich gemerkt? Glaubt man den Zahlen von transfermarkt.de, dann hat Wolfsburg dieses Jahr mehr Geld für Spieler ausgegeben als eingenommen und das ohne Europapokalteilnahme.
Leonard: Ja, aus der anhaltenden Erfolgslosigkeit hat der Mutterkonzern eine Konsequenz gezogen und etwa ein Fünftel der Unterstützung eingefroren. Was der VfL übrigens als Beitrag zu den VW-Strafgeldern wegen Diesel-Gate verbucht. Aber naja… Der Transfersommer zeigt eine neue Ausrichtung. Dimata, Hinds, Uduokhai, William oder Stefaniak sind entwicklungsfähige Leute, die sich erst noch beweisen müssen. Brooks, Tisserand, Camacho, Verhaegh und Origi sollen hingegen sofort helfen. Der VfL hat einen Giga-Umbruch hinter sich. Aus der Pokalsieger-Startelf von 2015 ist nur noch Maxi Arnold da. Wahnsinn. Aber der Cut war mehr als nötig. Und die Häufung der ganz großen Namen findet man in der VW-Stadt nicht mehr. Aber: Klar hat der VfL wieder mit deutlich mehr Geld hantiert als die meisten anderen. In der Finanztabelle steckt der Klub trotz VW-Sparmaßnahmen in den Top 6. Da soll’s auf Dauer auch wieder hingehen.
Rund um den Brustring: Ein Sieg, ein Unentschieden, eine Niederlage, dazu ein knapper Sieg im Pokal. Wie bewertest Du den Saisonstart des VfL und was traust Du der Mannschaft in dieser Saison zu? Geht es wieder um den Klassenerhalt oder eher weiter nach oben?
Leonard: Die vier Punkte in der Liga sind mehr, als der VfL verdient hat. Im Pokal war’s nichts, gegen Dortmund (0:3) war’s gar nichts, wie der 1:0‑Sieg in Frankfurt zustande kam, weiß niemand (10:5 Groß-Chancen für die SGE). Das 1:1 gegen Hannover hat vielleicht gezeigt, wo sich der VfL einzuordnen hat in seiner Umbruchsaison. Die Verantwortlichen haben Platz 9 als Ziel ausgegeben, was allein von der Finanzkraft her drin sein muss. Allerdings sehe ich das noch nicht. Die Vorbereitung war für die Katz, weil Jonker jede Einheit, jedes Testspiel mit einem 4–2‑3–1 spielen ließ, in dem festen Glauben, dass Olaf Rebbe ihm noch einen starken Außen holt, der Gomez füttert. Rebbe probierte es bei Martial, Suso, Malcom, N. Müller und sicher noch tausend Flügelspielern, bekam aber keinen. Origi ist ein dicker Fisch, aber kein Außen. Also muss Jonker nun eine Dreierkette spielen, um die schwachen Flügel zu kaschieren. Die Automatismen sind aber längst nicht da, Abläufe auch nicht zu erkennen. Wenn’s gut läuft, hat der VfL mit dem Abstieg nichts zu tun.
Rund um den Brustring: Am Samstag fallen nicht nur 17-Millionen-Neuzugang John Anthony Brooks, sondern auch Jeffrey Bruma und Kapitän Mario Gomez verletzt aus. Wie gravierend sind diese Ausfälle für die Mannschaft?
Leonard: Sehr bitter. Brooks und Bruma sollten die Fixpunkte der Viererkette bilden, sie werden aber wohl erst in der Rückrunde wieder spielen können. Der VfL hat darauf reagiert und Tisserand aus Ingolstadt geholt. Aber auch der ist fraglich fürs VfB-Spiel. Erst streikte er sich aus Ingolstadt weg, nun streikt sein Oberschenkel. Ironie des Schicksals. Und Gomez: Kapitän, Wortführer, Torjäger. Dass er fehlt, trifft den VfL hammerhart.
Rund um den Brustring: Apropos Gomez: Er ist einer von zwei Ex-VfB-Spielern in Grün, der zweite ist Daniel Didavi. Bist Du überrascht, dass er diese Saison die Binde trägt? Und was ist nach einer Saison dein Eindruck von Daniel Didavi, der uns ja nach dem Abstieg Richtung Wolfsburg verlassen hat?
Leonard: Es kam nicht überraschend, dass Gomez der Kapitän geworden ist. Er hat sich in Windeseile zum Gesicht des Klubs entwickelt. Schon in der Vorsaison hatte sein Wort Gewicht, und dass er trotz einigen Angeboten im Sommer beim VfL geblieben ist, hat ihm viele, viele weitere Sympathien eingebracht. Das gepaart mit seinen Toren macht ihn zum kogischen Kapitän. Dass Jonker hinter Gomez aber mit Camacho und Verhaegh zwei Neue zu Stellvertretern gemacht hat, hat für viel Kritik gesorgt. Wolfsburg wollte Maxi Arnold im Führungsgremium sehen.
Didavi, das werdet ihr in Stuttgart erst recht wissen, gehört zu den Besten der Liga 1 — wenn er fit ist. War er in der Vorsaison zu selten, aber jetzt wirkt er so griffig wie nie. Dass er die beiden VfL-Tore bisher erzielt hat, ist kein Zufall. Didavi hat seine Ernährung umgestellt, hört mehr auf die Signale seines Körpers. Und das klappt. Weil er nach dem Umbruch zu den älteren Spielern gehört, nimmt er eine kleine Führungsrolle ein. Und das steht ihm.
Rund um den Brustring: Die angesprochenen verletzten Spieler mal außen vor: Vor wem muss sich der VfB am Samstag in acht nehmen, was sind die Stärken der derzeitigen VfL-Mannschaft?
Leonard: Passt auf Origi auf. Der Typ ist eine Maschine, bringt Masse und Klasse mit, hat viel Selbstvertrauen und ordentlich Zug zum Tor. Außerdem ist Didavi in bestechender Form. Sonst habe ich bisher keine Stärken entdecken können — und ich war bei allen Spielen bisher im Stadion.
Rund um den Brustring: Und wo liegen die Schwächen?
Leonard: Weil das System für alle neu ist, sind noch viele Kinderkrankheiten erkennbar: zu große Abstände zwischen den Linien, keine einstudierten Abläufe, wenig Struktur. Gerhardt hat alleine auf links bisher zu kämpfen, auch William auf rechts braucht eigentlich noch viel mehr Zeit. Der VfL ist über die Außen zu knacken. Das Zentrum mit Camacho als Libero und davor Arnold plus Guilavogui dagegen steht gut. Und im Angriff: die Idee bisher hieß “Zufall + Gomez”. Aber einer von denen fällt Samstag aus.
Rund um den Brustring: Abschließend: Dein Tipp fürs Spiel?
Leonard: Ich kann den VfB schwer einschätzen. Kriegen sie Druck über Außen hin, werden sie dem VfL gefährlich. Mein Tipp: 1:1.
Rund um den Brustring: Leonard, vielen Dank für das Gespräch!
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