Ein besonderes Spiel steht heute Abend für den VfB an. Sportlich können wir in der Europa League einen großen Schritt Richtung Playoffs oder Achtelfinale machen. Angesichts der Umstände dieses Spiels tritt das aber fast in den Hintergrund.
Ein ganzes Tor hat Maccabi Tel-Aviv im Europapokal in dieser Saison bisher erzielt und zwar bei der 1:3 Heimniederlage gegen Dinamo Zagreb, außerdem konnte der israelische Meister bei PAOK einen Punkt ergattern. Vor dem Gastspiel im Neckarstadion sind die Rollen eigentlich so klar verteilt, dass es dem VfB gelingen sollte, eine eindeutige Reaktion auf die schmerzhafte Klatsche gegen München vom vergangenen Samstag zu zeigen, bevor man Sonntag in Bremen auf einen Gegner trifft, in dessen Stadion wir in den vergangenen Jahren nie besonders gut aussahen. Auch wenn das 0:5 gegen den Meister und Tabellenführer in unserer derzeitigen Situation eine ziemliche Schmach darstellt, gehe ich davon aus, dass sich die Mannschaft davon nicht derart runterziehen lässt wie vom Ausscheiden in der Champions League Anfang des Jahres. Wobei da ja anscheinend auch der veränderte Rhythmus eine Rolle für die Mannschaft spielte: Jede Niederlage in der Liga war nicht bereits am Dienstag oder Mittwoch wieder vergessen, sondern spukte eine ganze Woche lang in den Köpfen herum. Die klare und deutliche Analyse von Deniz Undav oder Angelo Stiller — so problematisch das Eingeständnis, man habe sich aufgegeben, auch ist — machen meiner Meinung nach deutlich, dass die Mannschaft selber gemerkt hat, was vielleicht in den drei Spielen in der vergangenen Woche in die falsche Richtung lief.
So entspannt ich aus sportlicher Sicht auf den heutigen Abend blicke, so beklemmend und bestürzend ist alles, was dieses Spiel begleitet. Ausführliche und damit lange dauernde Personenkontrollen mit Metalldetektoren an den Eingängen, bewacht von offen waffentragenden Polizisten — das ist nochmal eine andere Nummer als die Kontrollen am Fantreffpunkt (!) in Deventer. Und natürlich ist die Lage eine andere. Während ich mir immer noch nicht sicher bin, ob der kleine König Ron seine Stadt vor marodierenden Fanhorden aus Stuttgart oder uns vor marodierenden Fanhorden aus Deventer schützen wollte — oder ob er einfach nicht viel von europäischer Freizügigkeit hält — gibt es für das Spiel heute Abend natürlich eine wesentlich konkretere Bedrohungslage angesichts der andauernden durch den Nahost-Konflikt ausgelösten Spannungen, um es mal so zu formulieren. Natürlich hat jeder noch die Ausschreitungen rund um das Spiel Maccabis in Amsterdam im November 2024 vor Augen, genauso den Ausschluss der israelischen Fans vom Spiel bei Aston Villa in dieser Saison, weil sich die Polizei in den West Midlands außerstande sah, mit dieser Situation umzugehen. Was heute in Stuttgart passieren wird, weiß ich nicht, auf jeden Fall begleiten jetzt schon Boykottaufrufe und Kundgebungen dieses Spiel, das definitiv keines ist wie jedes andere.
Was man auch an den Regeln sieht, die innerhalb des Stadions gelten: “Außerhalb der Cannstatter Kurve sowie des Gästefanbereichs ist das Mitführen und Präsentieren von Fahnen, Bannern, Schildern und Fanutensilien jeglicher Art mit Ausnahme von Fantrikots, Fanschals und Fanmützen nicht gestattet. Der Ordnungsdienst ist angehalten, sofort gegen jegliche Form von Störung oder provozierendem Verhalten auf den Zuschauerrängen einzuschreiten. Das Präsentieren von Fahnen, Bannern, Schildern und Botschaften jedweder Art wird außerhalb der Cannstatter Kurve sowie des Gästefanbereichs sofort durch den Ordnungsdienst unterbunden.” Damit kippt man, meiner Meinung nach, wie in Birmingham das Kind mit dem Bade aus, wenn auch auf andere Art und Weise. Während man in England ähnliche Szenen wie in Amsterdam befürchtete und deshalb die Gästefans pauschal mit einem Ausschluss bestrafte, will man bei uns jegliche Form der visuellen Meinungsäußerung außerhalb der Cannstatter Kurve und des Gästeblocks unterbinden. Das Commando Cannstatt hat sich ebenfalls bereits gestern zum Spiel geäußert und in gewohnt differenzierten Worten klargestellt: “Wir als Cannstatter Kurve, wir als Gemeinschaft der VfB-Fans stehen an diesem Tag unter einem medialen Brennglas. Dabei ist der Nahostkonflikt viel zu komplex und zu langwierig, als dass hier einfache Lösungen und kurz gerufene oder gepinselte Parolen greifen. Unsere Kurve wird an diesem Abend sicher nicht als Bühne für globalpolitische Äußerungen dienen und wir werden einen Missbrauch als solche auch nicht akzeptieren!” Dem stimme ich inhaltlich voll zu: Wer meint, er könne sich zu diesem Thema angemessen und ausgewogen auf einem Spruchband, in einem Gesang oder in einem Kommentar in den sozialen Medien äußern, ist auf dem Holzweg. Wobei natürlich hier auch das CC verhindern will, dass in seinem Einflussbereich Botschaften zum Nahostkonflikt gezeigt werden, ähnlich wie der Verein.
Und dennoch tut man niemandem einen Gefallen, indem man Besucherinnen und Besuchern des Spiels solche Regeln auferlegt. Klar: Auch ich möchte im Neckarstadion keine menschenverachtende, rassistische, diskriminierende oder antisemitische Scheiße hören oder sehen. Gleichzeitig geht mit diesen Regeln eine Entmündigung der Fans einher und ein Generalverdacht, dass Äußerungen und Meinungen zum Nahostkonflikt in einem Fußballstadion eine größere Gefahr darstellen als anderswo. Natürlich ist Äußerung zum Nahostkonflikt im Umfeld Stadion tendenziell verkürzend und polarisierend — was auch damit zu tun hat, dass vielen Menschen bei diesem Thema nicht gelingt, eine Gleichzeitigkeit von Emotionen zuzulassen — aber nicht jede ist diskriminierend — auch wenn es für den Ordnungsdienst natürlich herausfordernd sein dürfte, in der jeweiligen Situation zu differenzieren, wo die Grenze zur Diskriminierung überschritten ist. Wer Fußballfans pauschal von Spielen ausschließt oder ihnen verbietet, sich im Stadion zu einem kontroversen Thema zu äußern, unterstellt ihnen einen Mangel an differenziertem Denken und Handeln, das man Menschen in anderen Kontexten vielleicht nicht unbedingt absprechen würde.
Und damit zurück zum Sportlichen und der
Personalsituation
Jeff Chabot ist, was mir erst kürzlich bewusst wurde, nach drei gelben Karten in den letzten drei Europapokalspielen, die letzte provoziert durch die Holzhacker aus Deventer, für das Spiel heute Abend gesperrt. Ermedin Demirovic ist noch nicht wieder fit und ohnehin aktuell nicht im Europa-League-Kader, ebenso wie Yannik Keitel und Stefan Drljaca , Luca Jaquez und Dan-Axel Zagadou sind bekanntermaßen bis mindestens Jahresende raus. Hinzu kommt, dass Pascal Stenzel, Leo Stergiou und Ameen Al-Dakhil ebenfalls nicht für die Europa League gemeldet sind, neben den momentan für den Kader ohnehin nicht in Frage kommenden Silas und Noah Darvich. Dementsprechend kommt für die
Mögliche Startaufstellung
angesichts des Mangels an Innenverteidigern fast nichts anderes als eine Viererkette in Frage. Stiller und Undav erhalten nach dem Bayern-Spiel zunächst eine Pause, während El Khannouss und Bouanani ohnehin ab Montag für den Afrika-Cup bei ihren Nationalmannschaften weilen. Aber auch diese Startelf sollte in der Lage sein, das Spiel früh für sich zu entscheiden.
Statistik
Der VfB hat im Europapokal noch nie gegen eine Mannschaft aus Israel gespielt. Maccabi hingegen traf in der ersten Runde des Pokals der Pokalsieger 1994 auf Werder Bremen (0:0, 0:2), 2004 in der Champions League-Gruppenphase auf die Bayern (0:1, 1:5) und zuletzt in der Gruppenphase der Europa League auf Eintracht Frankfurt (4:2, 0:2). In der Europa League ist die Bilanz des israelischen Meisters der vergangenen beiden Jahre wie bereits eingangs beschrieben, verheerend, in der Ligat Ha’Al verlor man zuletzt bei Tabellenführer Hapoel Beer Sheva mit 0:1 und rangiert auf Platz Drei. Das einzige Tor in der Europa League schoß Saied Abu Farchi, in der Liga sind Dor Peretz und Ido Shahar die gefährlichsten Torschützen. Mit Hélio Varela hat Maccabi übrigens auch einen WM-Teilnehmer in seinen Reihen und zwar für Kap Verde.
Fazit
Es wird mit Sicherheit auch nach dem Spiel nicht nur über das Sportliche geredet werden. Hoffen wir, dass ein klarer Heimsieg des VfB trotzdem das ist, was von diesem Spiel hängen bleibt und dass die Welt sich in eine Richtung entwickelt, in der wir vor Europapokalspielen nicht über Sicherheitsvorkehrungen und Verbote sprechen müssen.
Titelbild: © Shaun Botterill/Getty Images
