Der VfB hatte offensiv immer noch nicht genug: Etwas mehr als eine Woche vor Ende des Transfersfensters kam am Freitag El Bilal Touré von Europapokalsieger Atalanta Bergamo an den Neckar. Wir stellen Euch unseren neuen Leihspieler vor und versuchen herauszufinden, welche Rolle er in der bereits breit aufgestellten Offensive des VfB spielen kann.
Diese Transferperiode wirkt immer noch wie ein Fiebertraum. Nicht nur, dass der Verein mit dem Brustring für sein neues und teilweise altes Sturmduo bisher unerhörte Summen ausgab und auch davor bereits Ablösesummen im mittleren einstelligen Bereich zahlte. Nein, wie kürzlich bekannt wurde, haben Alexander Wehrle und Fabian Wohlgemuth scheinbar in der Geschäftsstelle endlich die Gomez-Millionen entdeckt und sind gewillt, diese noch in zwei weitere Spieler zu investieren: Einen rechtsfüßigen Innenverteidiger und — einen Stürmer. Während in der Abwehr, ähnlich wie im Sturm, weiterhin diverse Namen und Gerüchte kursieren, hat man sich im Angriff jetzt auf einen Spieler festgelegt: El Bilal Touré kommt leihweise von Atalanta Bergamo, in deren Trikot er Ende vergangener Saison noch den UEFA-Pokal präsentierte. Damit ist er immerhin einer der wenigen Spieler im Kader, die schon mal ein Spiel gegen Bayer Leverkusen gewonnen haben. Spaß beiseite. Warum aber wechselt ein Spieler, der im vergangenen Sommer als Rekordeinkauf in Bergamo ankam, in diesem Sommer zum deutschen Vizemeister und was können wir von ihm erwarten? Das haben wir drei Experten seiner ehemaligen Vereine gefragt. Einmal Valentin vom Podcast Reims Media Football zu seiner Zeit in der Champagne. Außerdem Juan Antonio Manzano, Sportchef bei Onda Cero Almería der die UD Almería schon seit über 30 Jahren verfolgt. Schließlich Andrea Sigorini, einer der Betreiber des Blogs atalantini.com, welcher bereits seit über 20 Jahren besteht und damit einer der ältesten im Atalanta-Universum ist.
El Bilal Touré wurde zwar im ivorischen Adjamé, Teil der Hauptstadt Abidjan geboren — und zwar am 3. Oktober 2001 — hat aber die Staatsbürgerschaft Malis und läuft auch für die Nationalmannschaft des Landes auf. Bis 2015 spielte er beim Hauptstadtverein Ivoire Académie FC bevor es ihn in die Heimat seiner Eltern zu Afrique Football Élite nach Bamako zog. Von dort verpflichtete ihn Anfang 2020 Stade de Reims. Der Verein aus dem Nordosten Frankreichs, der in den 1950ern den französischen Fußball dominierte und zwei Mal im Finale des Europokals der Landesmeister stand — und beides Mal gegen Real Madrid verlor — schickte sich in jener Saison an, zum ersten Mal seit 1962 wieder in den Europapokal einzuziehen. Für die zweite Mannschaft im viertklassigen Championnat, die Valentin zufolge ausschließlich für Nachwuchsspieler gedacht ist, erzielte er zwei Tore in zwei Spielen, trainierte jedoch schnell auch bei der ersten Mannschaft mit. Bereits im Februar wurde er deshalb in die Ligue 1 hochgezogen. Valentin zufolge galt er als großes Talent, was man auch daran sehe, dass Nachwuchsspieler normalerweise erst mal ein halbes Jahr in der Reserve aufliefen. Touré jedoch traf im ersten Profi-Spiel für Reims gegen Angers direkt per Elfmeter und bis zum vorzeitigen Saisonende im März immerhin noch weitere zwei Mal — jedes Mal zum einzigen Treffer des Spiels — und begann sechs von sieben Spielen in der Startelf . Beim 1:0 gegen Stade Rennais stand er übrigens für die letzte halbe Stunde das erste Mal gemeinsam mit einem gewissen Anastasios Donis auf dem Platz. Am Einzug in den Europapokal hatte Touré also durch aus einen gewissen Anteil. In der folgenden Saison rutschte Reims wieder auf Platz 14 ab, Touré kam auf 33 Einsätze und vier Tore in der Liga. Valentin zufolge hatte man sich natürlich mehr von ihm erwartet, gestand ihm aber als junger Spieler auch die Entwicklungszeit zu. Zudem setzte ihn Trainer David Guion auch auf dem linken Flügel ein, was ihm nicht besonders lag. In der Europa League-Qualifikation scheiterte die Mannschaft in der 3. Runde an Fehervar — vor dem Hintergrund, dass die Spiele in leeren Stadien stattfanden, kein guter Zeitpunkt für die Rückkehr nach Europa, so Valentin. In dieser Saison debütierte Touré auch in einem Testspiel gegen Ghana in der malischen Nationalmannschaft. Die Saison 2021/2022 verlief für ihn weniger erfolgreich: Reims verbesserte sich zwar auf Platz 12, er kam jedoch nur auf zwei Treffer und vier Vorlagen und verpasste zudem im Frühjahr ganze neun Spiele wegen einer Oberschenkelverletzung. Für Valentin neben erneut mehreren Einsätzen auf einer fremden Position einer der Hauptgründe für die verhältnismäßig schwache Saison. Es sollte nicht der letzte verletzungsbedingte Ausfall sein. Im Afrika-Cup verpasste er zudem zwei Spiele durch eine Rotsperre.
Hohe Erwartungen in Almería und Bergamo
Zur Saison 2022/2023 wechselte er dann nach Spanien zum damaligen Erstliga-Aufsteiger UD Almería, der dem Vernehmen nach etwa acht Millionen Euro Ablöse für ihn zahlte — eine Summe, die Valentin angesichts der 14 Scorerpunkte in der Ligue 1 nicht überraschte. In Reims hielt man ihn allerdings auch nicht für unersetzlich, in seinem letzten Jahr dort forcierte er Valentin zufolge durch Trainingsboykotte einen Wechsel. In Almería sollte er Sadiq Umar ersetzen, der Almería in die erste Liga geschossen hatte und dann zu Real Sociedad San Sebastian wechselte, verrät uns Juan Antonio. Die Erwartungen an ihn waren also entsprechend hoch, jedoch kam er erst am letzten Tag des Transferfensters nach Andalusien und musste sich entsprechend zunächst einfinden — zumal er damals erst 20 Jahre alt war. Seine Leistungen waren zunächst wechselhaft: Er traf in drei Spielen am Stück und dann wieder fünf Wochen lang gar nicht. Bevor eine Muskelverletzung ihn erneut einen Teil der Saison kostete, machte er mit dem einzigen Treffer beim Sieg gegen den FC Barcelona auf sich aufmerksam. Insgesamt kam Touré auf sieben Treffer in 21 Spielen, Juan Antonio hätte ihm aber ohne die Verletzung mehr als zehn Treffer zugetraut. Vor allem verlor er durch die Verletzung den Schwung, den er nach dem Treffer gegen Barca aufgenommen hatte. Nichtsdestotrotz rechnet Juan Antonio ihm einen Anteil am Klassenerhalt Almerías zu, seine Tore hätten wichtige Punkte gesichert. Nach nur einer Saison in Spanien zog es El Bilal Touré weiter nach Italien zu Atalanta Bergamo, die ihn mit knapp 30 Millionen Euro zu ihrem Rekordeinkauf machten. Juan Antonio erklärt, er sei aus zwei Gründen nicht über die hohe Ablösesumme überrascht gewesen: Zum einen habe Touré sein Potenzial in einer starken Liga wie der spanischen unter Beweis gestellt und das trotz seiner Verletzung. Zum anderen hätte ihn Almería nicht für weniger verkauft. Der Verein lasse sich die Abgänge seiner Leistungsträger teuer bezahlen, was auch die Abgänge von Darwin Núñez zu Benfica für etwa 35 Millionen Euro sowie des bereits erwähnten Sadiq zu San Sebastian für 20 Millionen Euro bewiesen. Beide Spieler hatte Almería übrigens ähnlich wie Touré für um die 10 Millionen Euro verpflichtet so mit den Verkäufen ordentlich Gewinn erzielt.
Auch in der Lombardei traf Touré auf hohe Erwartungen. eben weil Atalanta, vergleichbar mit dem VfB in diesem Sommer, noch nie so viel Geld für einen Spieler ausgegeben hatte. Hinzu kam die ähnlich kostspielige Verpflichtung von Gianluca Scamacca von West Ham. Ähnlich wie bei uns war man ob der hohen Transferausgaben skeptisch, die Verantwortlichen in Bergamo haben sich aber in den letzten Jahren bei den Fans viel Vertrauen aufgebaut, erläutert Andrea. Während Scamacca aber mit 18 Scorerpunkten, darunter 12 Toren, in der Serie A und sechs Treffern im Europapokal einen erheblichen Anteil am Höhenflug Bergamos hatte, kam Touré nur auf 17 Saisonspiele und ganze zwei Treffer. Schuld daran war ein Sehnenriss im Oberschenkel, den er sich in einem Vorbereitungsspiel gegen Juventus Turin zuzog und er ihn die ganze erste Saisonhälfte außer Gefecht setzte. Übrigens an der gleichen Stelle wie schon zuvor in Reims. Am 11. Februar dieses Jahres lief Touré erstmals in einem Pflichtspiel für Atalanta auf und erzielte beim 4:1 in Genua direkt ein Tor. Andrea erklärt uns, Spieler benötigten ohnehin eine längere Anpassungszeit an das Training und die Spielweise von Trainer Gian Piero Gasperini, die lange Verletzung habe diese Phase für Touré mit Sicherheit verlängert, so dass er nicht den erhofften Einfluss auf die Saison nehmen konnte. Immerhin traf er im Rückspiel des UEFA-Cup-Halbfinales zum 3:0‑Endstand gegen Olympique Marseille.
Variabler Stürmer mit Verletzungssorgen
Nun also mit dem VfB der vierte Verein im vierten Land binnen vier Jahren. Andrea zufolge hatte man Touré in diesem Jahre fest in Bergamo eingeplant, der Spieler sah aber für sich nicht genügend Spielzeit. Die Leihe mit Kaufoption sei aus Andreas Sicht eine gute Lösung für alle Beteiligten: Der VfB müsse nicht viel Geld für ihn bezahlen, Atalanta komme damit dem Spielerwunsch nach und hätte danach immer noch die Kontrolle über seinen Rekordeinkauf. Falls die Leihe nicht wie gewünscht laufe, könne man die Situation im Sommer 2025 immer noch neu bewerten. Welche Rolle aber kann Touré beim VfB spielen? Taktisch gesehen kann er sowohl als Mittelstürmer, als auch als hängende Spitze agieren. In Spanien und Frankreich war er der klassische Neuner in einem 4–2‑3–1 oder einem 4–3‑3, in Italien und Frankreich aber auch hängende Spitze oder auf der linken Seite, er sei aber offensiv überall einsetzbar, so Andrea. Valentin erläutert, er könne sowohl in die Tiefe gehen, als auch als Zielspieler mit dem Rücken zum Tor agieren.
Als Stärken führen alle Experten seine Schnelligkeit und seine Durchsetzungskraft an, außerdem sein Dribbling und seine Laufarbeit, zudem sein Kopfballspiel. Andrea nennt seine Unbeständigkeit als Schwäche, die sich ja auch in längeren Phasen ohne Tor ausdrückte. Eine weitere, schwer zu korrigierende “Schwäche” ist natürlich zudem seine Verletzungsanfälligkeit. Juan Antonio befürchtet, dass durch die vielen Verletzungen in den letzten Jahren das Vertrauen des Spielers in seinen Körper gelitten haben könnte. Wenn Touré mental stark bleibe und die Verletzungen aus dem Kopf kriege, traut er ihm jedoch viel zu. Auch Andrea merkt an, dass man das Thema Verletzungen nicht unterschätzen sollte, auch weil er jedes Mal länger ausfiel. Sollte er jedoch fit bleiben und das Vertrauen von Team und Trainer haben, trauen ihm die Experten zu, sich in der im Vergleich zur Serie A weniger defensiv geprägten Bundesliga einen Namen zu machen. Juan Antonio meint dazu: “Er braucht den Ball und Raum, um Chancen zu haben”.
Interessant auch zu sehen, wie sich Touré Werte im Vergleich zu anderen Stürmern von seiner ersten vollständigen Saison in Frankreich zu seiner Saison in Spanien hin verändern. In Spanien schien er offensiv wesentlich mehr Freiheiten zu haben.
Es bleibt abzuwarten, wie sehr und wie häufig sich die Räume für Touré öffnen werden. Anders als bei der Leihe von Deniz Undav begibt sich der VfB vermeintlich diesmal in eine weniger große Abhängigkeit von einem Leihspieler. Was die Kaderbreite angeht, ist es sicherlich sinnvoll, neben Woltemade noch einen weiteren zentralen Stürmer für die zweite Reihe zu haben. Ob ihm das allerdings ausreicht hinter den angesichts der Ablösesummer als Stammspieler gesetzten Demirović und Undav, sei dahingestellt. Zwar sind die Kosten für die Leihe überschaubar und konnten in letzten Verhandlungen wohl auch noch einmal gesenkt werden, ganz zu vernachlässigen sind sie jedoch nicht. Dennoch: Mit einem Leihspieler als dritten oder vierten Stürmer macht man erstmal nicht viel falsch und Touré wird mit Sicherheit darauf drängen, sich in der Bundesliga für einen Stammplatz in der Serie A zu empfehlen. Hoffen wir, dass er verletzungsfrei bleibt und ein bisschen von dem Wissen, wie man Bayer Leverkusen schlagen kann, an seine Mitspieler weitergibt und wenn er eingesetzt wird, auch direkt weiterhelfen kann, ähnlich wie bei seinen letzten Stationen teilweise. Etwa eine Woche vor Ende der Transferperiode hat Fabian Wohlgemuth mit ihm jedenfalls die letzte Planstelle im Sturm besetzt — hoffen wir, dass er auch für die Innenverteidigung eine gute Lösung findet.
Zum Weiterlesen: Der Vertikalpass echauffiert sich — zurecht — über den Transferjournalismus-Zirkus und nimmt Touré ebenfalls unter die Lupe.
Titelbild: © Marco Luzzani/Getty Images