Zum ersten Mal tritt der VfB heute Abend in der Europa League in einem Pflichtspiel in der Türkei an. Vor der Partie bei Fenerbahce sprachen wir mit Journalist Muhammet Duman über die Lage beim Vizemeister.
Rund um den Brustring: Fenerbahçe belegte viermal in Folge den zweiten Platz in der Süper Lig, doch der letzte Meistertitel liegt bereits zehn Jahre zurück. Was hat in den vergangenen Jahren zum Titelgewinn gefehlt?
Muhammet: Fenerbahçe wurde zuletzt 2014 unter Trainer Ersun Yanal Meister. Galatasaray dagegen holte in den vergangenen drei Jahren jeweils den Titel. Der entscheidende Faktor war der Spielplan von Trainer Okan Buruk – er verstand es, seine Spieler optimal einzusetzen. Fenerbahçe verpflichtete in den letzten Jahren einige der besten Trainer und Spieler der Welt, konnte aber dennoch keinen Titel holen. Das führte zu massiver Kritik der Fans. Sowohl Jorge Jesus als auch zuletzt José Mourinho mussten gehen, weil sie keinen Erfolg brachten.
Jede Saison beginnt Fenerbahçe unter enormem Druck, endlich wieder Meister zu werden. Doch zuletzt fehlten Teamgeist und Kommunikation. Diese Defizite kosteten den Klub Jahr für Jahr die Meisterschaft.
Zwar wurden Stars wie Michy Batshuayi, Edin Džeko, Joshua King, Enner Valencia und Youssef En-Nesyri verpflichtet, doch der Erfolg blieb aus. Nach jeder Niederlage in der Süper Lig reagierte der Klub überhastet. Meiner Meinung nach hat Fenerbahçe vor allem psychologische Probleme: Das Team hat Schwierigkeiten, mit Druck und Stress umzugehen. Statt immer neue Stars zu holen, sollte man Kommunikation und Zusammenhalt stärken.
Ein weiteres Problem ist die mangelnde Geduld mit Trainern. 2024 schloss Fenerbahçe die Saison mit 99 Punkten ab – nur drei weniger als Galatasaray. Unter İsmail Kartal spielte das Team großartigen Fußball, blieb 21 Spiele in Serie ungeschlagen (ein neuer Rekord) und gewann zehn Auswärtsspiele hintereinander – ebenfalls Bestmarke. Dennoch wurde Kartal entlassen – ein schwerer Fehler. Sein Nachfolger Jorge Jesus konnte nicht an diese Leistungen anknüpfen. Hätte man Kartal mehr Zeit gegeben, wäre die Meisterschaft wohl möglich gewesen.
Der Klub hatte, wie du sagst, zahlreiche Trainer in kurzer Zeit. Momentan steht Domenico Tedesco an der Seitenlinie. Welchen Eindruck hast du von ihm, und was macht er besser als sein Vorgänger José Mourinho?
Mourinhos Zeit bei Fenerbahçe war eine Enttäuschung. Statt das Spielsystem zu verbessern, sorgte er mit provokanten Aussagen und Streitigkeiten für Unruhe. Am Ende stand der zweite Platz mit 84 Punkten – deutlich hinter den Erwartungen. Er hatte ständig Konflikte mit Spielern und dem Präsidenten und suchte nach Niederlagen Ausreden.
Nach seinem Abgang wollte der Klub das Chaos beenden und setzte mit der Verpflichtung von Domenico Tedesco neue Hoffnung. Der frühere Trainer der belgischen Nationalmannschaft sowie von Leipzig, Schalke und Stuttgart brachte zunächst Ruhe ins Umfeld. Nach acht Spielen stehen vier Siege, drei Unentschieden und eine Niederlage zu Buche.
Trotzdem wächst erneut der Druck: Fenerbahçe liegt sechs Punkte hinter Galatasaray. In den Medien kursierten bereits Gerüchte über eine mögliche Entlassung Tedescos. Das Team zeigt bislang weder spielerisch noch im Zusammenhalt klare Fortschritte. Der knappe 2:1‑Sieg gegen Schlusslicht Karagümrük enttäuschte viele Fans. Erst in der Rückrunde wird man sehen, wohin die Entwicklung geht.
Tedesco ist jedoch stärker im Umgang mit Druck als Mourinho. Er ist ein sehr positiver, charismatischer Mensch, und diese Energie wird sich mit der Zeit auf die Mannschaft übertragen.
Nach dem 2:1‑Sieg gegen Karagümrük steht Fenerbahçe nun auf Rang 3 – genauso wie der VfB in der Bundesliga. Wie bewertest du die aktuelle Saison und das Potenzial des Teams?
Fenerbahçe erholt sich noch vom Chaos der Mourinho-Ära. Tedesco bringt einen neuen Geist in die Mannschaft, doch das zeigt sich noch nicht konstant in den Ergebnissen. Unentschieden gegen Alanyaspor, Kasımpaşa und Samsunspor waren Rückschläge im Titelkampf. Auch das Spiel gegen Karagümrük war kein Genuss – das Team kämpfte über 90 Minuten.
Besonders kritisch gesehen wurde, dass formstarke Spieler wie Asensio und Talisca in dieser Partie starteten, ohne Akzente zu setzen. Fenerbahçe hat Schwierigkeiten, Druck auszuüben und Chancen zu kreieren. Mit 25 Punkten liegt Galatasaray derzeit vorn, was den Druck zusätzlich erhöht. Tedesco steht vor einer schwierigen Aufgabe: Er muss die Spieler besser kennenlernen und ihre Leistung steigern. Jeder Fehler stärkt den Rivalen.
Tedesco arbeitet bereits an Transferlisten, um die Mannschaft nach seinen Vorstellungen umzubauen. Er ist entschlossen, dem Team seine Mentalität zu vermitteln. Die kommenden Wochen werden entscheidend sein – und die Fans müssen Geduld beweisen.
In der Champions-League-Qualifikation besiegte Fenerbahçe Feyenoord, verlor jedoch gegen Benfica. Wie groß war die Enttäuschung, erneut die Königsklasse zu verpassen?
Die erfolgreichste Champions-League-Saison Fenerbahçes liegt lange zurück – 2007/2008 erreichte man das Viertelfinale. Seit fast 17 Jahren gelingt keine Qualifikation oder überzeugende Teilnahme mehr. Das ist frustrierend für Fans und Verein.
Das Ausscheiden hatte auch Auswirkungen auf die Ligaspiele – das Team wirkte kraftlos und demoralisiert. Dennoch hofft man jedes Jahr aufs Neue. Der Fokus liegt inzwischen aber klar auf der Süper Lig, die Champions League ist zweitrangig geworden.
In Europa leidet Fenerbahçe immer wieder unter Nervosität und Konzentrationsfehlern. Der Kader hätte eigentlich Champions-League-Format, doch individuelle Patzer und mentale Schwächen kosten regelmäßig den Erfolg.
In der Europa League traf Fenerbahçe auf Dinamo Zagreb und OGC Nice. Wie schätzt du die Chancen nach der Gruppenphase ein?
Letzte Saison schied Fenerbahçe im Achtelfinale aus, obwohl man gegen die Rangers eigentlich überlegen war. In der Europa League ist das Team insgesamt erfolgreicher – 2012/2013 erreichte man sogar das Halbfinale.
Aktuell hat Fenerbahçe wohl den stärksten Kader des Wettbewerbs. Die größten Herausforderungen werden Aston Villa und Stuttgart sein. Gewinnt man gegen Stuttgart, wäre das ein enormer moralischer Schub. Ich traue Fenerbahçe mindestens das Viertelfinale zu. Während es in der Liga hapert, kann die Erfahrung der Mannschaft in Europa ein Vorteil sein.
Welche Formation bevorzugt Tedesco, und wo liegen Stärken und Schwächen?
Zu Beginn setzte Tedesco auf ein 4–2‑3–1‑System, was für die offensiv ausgerichtete Mannschaft aber nicht funktionierte. Nach der 1:3‑Niederlage gegen Dinamo Zagreb stellte er auf ein 4–3‑3 um – mit drei Siegen und einem Unentschieden in den folgenden vier Spielen.
Tedesco will ein Team, das nach Ballverlust sofort presst und ein hohes Tempo geht. Er duldet keine Passivität und fordert konstante Angriffslust. Er hasst Gegentore und legt Wert auf schnelles, direktes Spiel in die Spitze. Wenn Fenerbahçe Schussfrequenz und Chancenverwertung verbessert, kann sich das Team deutlich steigern. Positiv ist auch, dass Tedesco ruhig mit dem hohen Erwartungsdruck umgeht.
VfB-Fans kennen Çağlar Söyüncü noch aus Freiburg und Ederson von Manchester City. Wie bewertest Du die Transferaktivitäten im Sommer?
Çağlar Söyüncü kennt den deutschen Fußball aus seiner Zeit in Freiburg, das ist ein Vorteil. Dennoch spielte er bisher nur sechs Partien und zeigte wechselhafte Leistungen. Tedesco vertraut aber auf seine Erfahrung.
Fenerbahçe hat insgesamt außergewöhnlich eingekauft: Ederson, Jhon Duran, Edson Álvarez, Marco Asensio, Dorgeles Nene und Nelson Semedo – ein Kader auf Topniveau. Besonders Ederson verleiht der Defensive enorme Sicherheit. Allerdings haben viele Neuzugänge noch Anpassungsschwierigkeiten; es fehlt an Kommunikation und Konstanz.
Jhon Duran fiel früh verletzt aus, was Tedescos Pläne beeinträchtigte. Kerem Aktürkoğlu bringt Dynamik über die Flügel, doch in der Sturmzentrale herrscht weiter Unsicherheit. En-Nesyri blieb hinter seinen Leistungen des Vorjahres zurück. Tedesco setzt nun verstärkt auf schnelle Flügelangriffe über Kerem und Nene. Wenn alle Neuzugänge bald ihre volle Leistung abrufen, kann Fenerbahçe ein ganz neues Level erreichen.
Youssef En-Nesyri ist aktuell bester Torschütze. Auf wen sollten wir neben ihm achten?
En-Nesyri erzielte vergangene Saison 30 Tore in allen Wettbewerben, aktuell steht er bei fünf Treffern und einem Assist in 15 Spielen. Seine Kopfballstärke bleibt herausragend – er wird auch gegen Stuttgart eine Schlüsselfigur sein.
Torhüter Ederson kehrt wohl zurück und stabilisiert die Defensive. Auf den Flügeln sorgen Kerem und Nene mit ihrem Tempo für Gefahr. Talisca überzeugt mit Spielintelligenz und gefährlichen Distanzschüssen, Sebastian Szymanski mit präzisen Flanken und Pässen. Oğuz Aydın kann auf den Außenbahnen jederzeit für Überraschungen sorgen. Trotz schwächerer Phase verfügt Fenerbahçe über enorme Offensivpower.
Eine Verbindung zwischen Stuttgart und Fenerbahçe ist Ömer Faruk Beyaz. Hätte seine Karriere besser verlaufen können, wenn er in Istanbul geblieben wäre?
Das ist sehr traurig. Ömer Faruk Beyaz war eines der größten Talente Fenerbahçes, technisch stark und spielintelligent – vergleichbar mit Arda Güler. Beim VfB Stuttgart kam er jedoch nur auf fünf Einsätze, ehe er in die Türkei zurückkehrte.
Er selbst sagte 2023, dass er Fenerbahçe verließ, weil der neue Sportdirektor Damien Comolli ihn nicht fördern wollte. Das brach ihm das Herz. Fenerbahçe verlor damit ein riesiges Talent, das dem Klub sportlich und finanziell viel hätte bringen können. Nun spielt er unter Nuri Şahin bei Başakşehir – hoffentlich schafft er dort den Neustart. Mit 22 Jahren hat er noch alle Möglichkeiten.
Was dürfen die VfB-Fans im Şükrü Sarıoğlu-Stadion erwarten?
Das Stadion ist eines der stimmungsvollsten der Türkei, mit über 50.000 Plätzen – eine echte Hölle für Gegner. Fenerbahçe bezwang hier schon große Teams wie Inter Mailand, Manchester United oder Chelsea.
Die Fans unterstützen ihre Mannschaft 90 Minuten lang ununterbrochen, und die Lautstärke ist ohrenbetäubend. Viele Spieler berichten, sie hätten während des Spiels ihre Mitspieler kaum verstanden. Arsène Wenger sagte einmal: „Wenn Sie eine der härtesten Fußballatmosphären erleben wollen, gehen Sie nach Fenerbahçe oder Dortmund.“ – Das sagt alles.
Der VfB warnte seine Fans, in Istanbul vorsichtig zu sein. Ist das übertrieben?
Nein, das sind sinnvolle Hinweise. Fenerbahçe-Fans sind leidenschaftlich, aber grundsätzlich freundlich. In Europapokal-Spielen steigt die Emotion allerdings stark an. Ich glaube nicht, dass es zu Problemen kommen wird – die Zeiten von 2010, als Fans nach einer verpassten Meisterschaft randalierten, sind vorbei. Seit rund 15 Jahren ist es im Stadion friedlich.
Dennoch sollten alle Fans umsichtig sein und das Spiel respektvoll genießen. Zwischen der Türkei und Deutschland besteht eine besondere Freundschaft – ich bin überzeugt, der wahre Gewinner dieses Spiels wird die Freundschaft sein.
Zum Schluss: Dein Tipp für Startelf und Ergebnis?
Ederson – Semedo, Oosterwolde, Škriniar, Brown – İsmail, Talisca, Asensio – Kerem, Nene, Youssef En-Nesyri.
Ich tippe auf ein 2:1 für Fenerbahçe – vor allem wegen der Fanunterstützung. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn Stuttgart für eine Überraschung sorgt.
Titelbild: © Ahmad Mora/Getty Images