In Istanbul zeigte der VfB gegen einen unangenehmen Gegner keine schlechte Leistung — aber gerade offensiv eben auch keine, die für mehr als einen Punkt gereicht hätte. Dass das zweite Auswärtsspiel in Europa in Folge verloren ging, lag aber nicht allein an der fehlenden Durchschlagskraft.
Stuttgart international kann man ja seit letztem Jahr wieder durchaus im nüchternen Zustand sehen, auch wenn das Auswärtsspiel in Belgrad und die erste Halbzeit gegen Paris nur schwer ertragen zu waren. Im Auswärtsspiel bei Fenerbahce bekamen die Brustringträger aber mal wieder zu spüren, was Europapokal eben auch bedeutet: Man spielt selbst im UEFA-Pokal gegen Mannschaften, die zum einen jedes Jahr in ihren Ligen um Titel mitspielen und die dementsprechend zum anderen regelmäßig im Europapokal vertreten sind. In Basel ließ sich der VfB trotz vieler Chancen am Ende von den Routiniers Xerdhan Shaqiri sowie Marvin Hitz im Tor den Zahn ziehen. In Istanbul war es hingegen die gesamte Mannschaft von Fenerbahce, die dem VfB zwar den Ball überließ, ihm aber kaum Gelegenheiten schenkte, diesen im Tor unterzubringen. Nimmt man dann noch einen verunsicherten Schiedsrichter und ein geschickte Aktionen am Rande des Zugelassenen hinzu, kann ein knappes Spiel dann eben in eine Richtung kippen. Leider nicht in die des VfB.
Um eines vorweg zu nehmen: Dass bei uns am Ende die Null stand, hat der Unparteiische Jakob Kehlet nicht alleine zu verantworten. Dazu fehlten dem VfB die Quantität und Qualität der Abschlüsse im Strafraum. Ein Nick Woltemade hätte hier den Unterschied machen können, vielleicht auch ein Deniz Undav in Hochform oder ein Ermedin Demirovic. Der VfB lief hingegen sicher auch rotationsbedingt mit den Zauberfüßen Tiago Tomás und Badredine Bouanani auf, die sich kaum zeigten. Und Deniz Undav fiel außer bei seinem komplett verunglückten Abschluss nur dadurch auf, dass er den provozierenden Fener-Spielern kurz vor Abpfiff ordentlich Kontra gab. Die wenigen Chancen, die die Gastgeber zuließen, ging mal knapp, mal weit vorbei, stellten aber Torwart Ederson auch nicht vor unlösbare Aufgaben.
An der Haltung mangelt es nicht
Dennoch: Wie man die Grätsche von Alvarez gegen Stillers Schussbein als Foul des VfB-Spielers auslegen kann und den bereits gegebenen Elfmetern zurücknehmen kann, weil Stiller seine Schussbewegung so vollendet, dass der Schuh des Fener-Spielers unter dem Stillers landet, will mir immer noch nicht in den Kopf. Aber auch international gilt: Auf hoher See, vor Gericht und beim VAR bist Du in Gottes Hand. Beim Elfmeter zum entscheidenden 1:0 hingegen hatte Stiller das Pech, dass Kehlet sein kurzes Halten sah und somit seinen Elfmeterpfiff trotz des im Vergleich zum Halten theatralischen Absprungs von Skriniar rechtfertigen konnte. Aber es ist eben in Dänemark wie bei uns — wer nichts kann, wird UEFA-Schiedsrichter.
Die eben beschriebene Szene zeigt aber auch, was dem VfB außer einem treffsicheren Angreifer in Istanbul noch fehlte: Die nötige Abgezocktheit. Zocken konnten die Brustringträger bis zum gegnerischen Strafraum ziemlich gut, gerade in der ersten Halbzeit knüpften sie an das in Wolfsburg gezeigte Umschaltspiel an und waren bis auf ein paar Wackler auch defensiv sehr konzentriert unterwegs. Lediglich Jeff Chabot unterliefen gleich mehrere Leichtsinnsfehler, die aber von seinen Kollegen oder ihm selber ausgebügelt worden. Nach der Pause ließ der Druck dann etwas nach und auch die Einwechslungen brachten nicht den erhofften Erfolg. Viele Unterbrechungen taten ihr Übriges, dass der VfB außer beim Elfmeter nicht mehr so richtig gefährlich vors Tor kam. Am Einsatz und der Haltung zum Spiel mangelte es jedenfalls nicht.
Stagnation reicht in Istanbul nicht
Und auch wenn Fenerbahce am Ende knapp mit 1:0 durch einen Elfmeter gewann — der türkische Serien-Vizemeister ist nicht nur wegen der Spielweise und der Unterstützung durch seine Fans keine Laufkundschaft im Europapokal. Es war schon bei der Auslosung klar, dass dieses sowie die Spiele gegen Feyenoord und bei der Roma die größten Herausforderungen sein würden. Angelo Stiller beschrieb das Spiel im Nachhinein als “kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt”. Selbst wenn man die Enttäuschung nach dem Spiel rausrechnet ehrt ihn das, gleichzeitig würde ich es eher als Stagnation beschreiben. Am Donnerstagabend brauchte der VfB angesichts des schwereren Gegners noch eine weitere Leistungssteigerung im Vergleich zum Spiel in Wolfsburg. Dazu war die Mannschaft in Istanbul nicht in der Lage.
Dennoch macht der konzentrierte und engagierte Auftritt vor der Pause Mut, nicht nur für Liga und Pokal, wo es jetzt zwei Mal gegen eine Mannschaft geht, die ähnlich unter Druck steht wie Fenerbahce, sondern auch für die verbliebenen fünf Spiele im Europapokal. Letzte Saison musste man mindestens elf bis zwölf Punkte auf dem Konto haben, um nicht auszuscheiden, 15 für die direkte Qualifikation fürs Achtelfinale. Bedeutet für uns neun Punkte aus den Heimspielen gegen Rotterdam, Tel-Aviv und Bern sowie den Auswärtspartien in Deventer und Rom. Natürlich steigt dadurch auch der Druck in den kommenden Spielen, anders als in der vergangenen Spielzeit, als in Spielen gegen Real, Juventus oder PSG niemand etwas erwartete. Wenn die Mannschaft aber noch mehr so auftritt, wie man es im Europapokal mit Gegnern auf Augenhöhe machen muss, sehe ich keinen Grund, warum die Reise nicht weitergehen sollte.
Zum Weiterlesen: Der Vertikalpass resümiert: “Der VfB versuchte es auf seine Art, ließ sich nicht einschüchtern und auch nicht auf das Niveau des Gegners runter ziehen. Konzentrierte sich auf seine Stärken, versuchte es mit Coolness gegen die Leidenschaft von Fener. Aber so cool und vor allem so reif, seine eigenes Spiel in Zählbäres umzuwandeln, war es nicht.”
Titelbild: © Yunus Yazici / VfB Stuttgart